Von heiligen und unheiligen Büchern

Mediävistische Blicke auf Bibel, Koran und Edda

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Das Phänomen des ‚Heiligen‘ beschäftigt neben Theologie und Religionswissenschaft seit langem die Disziplinen der so genannten Geistes- und Kulturwissenschaften, und diese vielfältig perspektivierte Beschäftigung hat eine Unzahl an Versuchen gezeitigt, der Thematik gerecht zu werden. Es kann an dieser Stelle nicht versucht werden, auch nur einige Linien dieses Spektrums aufzuzeigen. Titelt der vorliegende Sammelband „Heilige Bücher“, so scheint zunächst eine Spezifikation erfolgt; bedenkt man indes, dass damit die zentralen Schriften von Christentum und Islam in den Fokus rücken, so öffnet sich abermals ein nahezu unüberschaubares, inter- und transdisziplinäres Forschungs- und Meinungsfeld.

Band 18 der Reihe „Das Mittelalter – Perspektiven mediävistischer Forschung“, die Zeitschrift des deutschen Mediävistenverbandes, entstand in Folge einer 2011 abgehaltenen Ringvorlesung des Schweizer Kompetenzzentrums „Zürcher Mediävistik“ und vereint sieben Beiträge aus der Mittelalterforschung: „Die Herausbildung des biblischen Kanons im antiken Judentum und im frühen Christentum“ (Jörg Frey), „Der Koran und seine Rezeption“ (Renate Würsch), „Toter Buchstabe – lebendiger Geist. Bibelauslegung als Lektüreereignis“ (Aleksandra Prica), „Die Titelbilder der ‚Bible historiale‘. Zwischen Standardisierung und Personalisierung“ (Thomas Flum), „Der Mythos Gregor und die Grundlegung der musica sacra im heiligen Buch“ (Therese Bruggisser-Lanker), „Unheilige Bücher. Zur Implosion mythischen Erzählens in der ‚Prosa-Edda‘“ (Jürg Glauser) sowie „Lebendige Bücher. Materielle und mediale Aspekte der Heilsvermittlung in der mittelalterlichen Gedenküberlieferung“ (Rainer Hugener).

Ein Blick auf diese Titel zeigt die Breite der Zugänge auf, macht aber auch deutlich, dass die Zielsetzungen der Beiträge merklich differieren, dass Aufsätze mit allgemein einführendem Charakter neben Spezialuntersuchungen stehen. Der Aspekt des ‚Heiligen‘ wird dabei in unterschiedlicher Weise gefasst, allerdings kaum problematisiert, sondern gewissermaßen zur Grundannahme a priori gesetzt; der Verweis auf Forschungsdebatten und widerstrebende Interpretationen wird bestenfalls in die Fußnoten verbannt. Ist damit das erwähnte Spektrum wissenschaftlicher Positionen reduziert, so wird dies nicht zuletzt dem Vorlesungscharakter der Beiträge geschuldet sein. Das muss durchaus nicht als Manko aufgefasst werden, erlaubt es doch einen weitgehend unkomplizierten Einstieg in die Aufsätze. Man hätte sich aber gewünscht, dass die kurze Einleitung der Herausgeberinnen einige weiterführende bibliografische Angaben offeriert hätte.

Es liegt auf der Hand, dass das Phänomen des ‚Heiligen‘ – auch in der Beschränkung auf eine ‚Buchkultur‘ – von den wenigen versammelten Beiträgen allenfalls schlaglichtartig behandelt werden kann. Damit bieten die Aufsätze einerseits, wie gesagt, Zugänge für einen breiteren Rezipientenkreis, andererseits aber auch erhöhtes, man will bisweilen sagen: provokantes Diskussionspotenzial. Inspirierend scheint mir persönlich in dieser Hinsicht vor allem der Aufsatz Jürg Glausers zur mythografischen Snorra-Edda aus dem spätmittelalterlichen Island. Mit dem Kanon theologischer Texte, wie sie in den anderen Aufsätzen bedacht werden, ist diese Edda des isländischen Historikers, Skalden und Staatsmannes Snorri Sturluson in ihren differierenden Fassungen nur mittelbar zu vergleichen. Über 30 Seiten Mitteilungen, Tagungsberichte und Rezensionen beschließen das Heft.

Der schmale Sammelband beansprucht selbstredend nirgends Vollständigkeit und führt unter dem Titel der ‚heiligen Bücher‘ eine breit gestreute Auswahl an Aufsätzen zusammen. Die Art der Publikation ließ vermutlich allein eine solch selektive Behandlung der Thematik zu, andernfalls hätte man sich die Aufnahme ergänzender und erweiternder Beiträge sehr gut vorstellen können (nachträglich beigesteuert hat nur Thomas Flum). Ein Blick in die seinerzeitige Ankündigung der Ringvorlesung zeigt zudem, dass nur die Hälfte der gehaltenen Vorträge überhaupt ihren Weg in diese Publikation gefunden hat; die anderen Beiträge wurden, wie die Einleitung in einer Fußnote bemerkt, anderweitig veröffentlicht. Dennoch erlaubt der Band ein zügiges Einlesen in aktuelle Forschungsfragen verschiedener mediävistischer Disziplinen und dürfte künftige inner- und interdisziplinäre Diskussionen bereichern; die sinnvolle Beigabe englischsprachiger Abstracts schließlich kann die Rezeption über deutschsprachige Grenzen hinaus befördern.

Susanne Uhl, Carmen Cardelle de Hartmann (Hg.): Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung.
Band 8, 2008, Heft 2
Akademie Verlag, Berlin 2013.
176 Seiten, 59,80 EUR.
ISSN 09490345