Überleben und Überlieben

Peter Henisch beschenkt sich und seine Leser mit einem neuen Roman und seinen gesammelten journalistischen Texten

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon sein Sechzigster bescherte Peter Henisch die wohl unvermeidliche Frage nach dem „Alterswerk“. Seinerzeit erinnerte der Jubilar den Interviewer daran, dass Autoren diesbezüglich ja bessere Karten als Sportler hätten. Und dass nicht wenige seiner Kollegen erst mit 60 so richtig in Schwung gekommen seien. Heute, über ein Jahrzehnt und fünf Romane später, ist klar, dass sich das auch von diesem sympathisch stillen, feinen Wiener Romancier, Lyriker und Musiker sagen lässt, der Kennern seit langem als einer der großen Epiker der österreichischen Literatur gilt.

Aus Anlass von Henischs Siebzigstem im August letzten Jahres wurden gleich zwei gewichtige Neuerscheinungen vorgelegt: neben dem Roman „Mortimer & Miss Molly“ noch eine Sammlung seiner journalistischen Wortmeldungen, Essays und Interviews zu politischen, gesellschaftlichen und literarischen Themen aus den letzten vier Jahrzehnten. Letztere bestätigt eindrucksvoll, in welchem Maße Henischs Werk eine große Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte Österreichs darstellt. Als „wacher Zeitgenosse“ schrieb der „Außenseiter aus Passion“ über die zunehmende „Verhaiderung“ Österreichs, den Verlust an Sinnlichkeit in der Gegenwartsliteratur oder darüber, was Jim Morrison mit Johann Nestroy zu tun hat.

Fragt man nach dem verbindenden Element zwischen beiden Titeln, so lautet eine mögliche Antwort: Pietro und Bruna. Dieses gemeinsam in Harmonie alt gewordene Ehepaar, das lange Jahre irgendwo in der Toskana eine Bar führte, erinnerte den Autor an den Mythos von Philemon und Baucis, wie er 2003 in einem Essay schrieb. Im neuen Roman setzt Henisch dem Paar nun mit einem Gastauftritt ein anrührendes Denkmal. Und zeigt damit einmal mehr die für sein Werk von Beginn an kennzeichnende Verschränkung von autobiografischen Elementen mit Fiktion, man denke nur an den Roman „Eine sehr kleine Frau“ (2007) über seine ihn in die Geheimnisse des Erzählens einweihende Großmutter.

In „Mortimer & Miss Molly“ bringt der Anblick von Pietro und Bruna den Erzähler zu der Einsicht, dass die Liebe „vielleicht etwas mit Widerstand zu tun hatte. Mit Widerstand gegen alle widrigen Umstände. Und letzten Endes mit Widerstand gegen die Zeit.“ Man sollte diese Passage vor dem Hintergrund der nun vorliegenden Interviews lesen: In ihnen weist Henisch darauf hin, wie sehr der Tod „im Zentrum“ seines Schreibens stehe und dass jede schöpferische Tätigkeit „ein Ankämpfen gegen den Tod“ sei. Sind die Liebe und das Erzählen bei Peter Henisch also zwei nahe Verwandte, ja im tiefsten Grund sogar identisch?

Dieser Schluss drängt sich einem angesichts des neuen Romans geradezu auf. Er erzählt eine doppelte Liebesgeschichte. Und während sich die eine Liebe, die der Titelfiguren Mortimer und Miss Molly, vor allem gegen die äußeren Umstände behaupten muss, so die andere, die von Julia und Marco, die vier Jahrzehnte später ihren Anfang nimmt, gegen die Zeit selbst. Anfang der 1980er-Jahre gelangen die Wiener Psychologiestudentin Julia und der angehende Mediziner Marco, der lieber Filmemacher werden würde, würde seine Mutter ihn nur lassen, eher zufällig in das südtoskanische Dorf San Vito. Beide haben sich gerade erst kennengelernt – nicht mehr als eine vergängliche Sommerliebe, wie es scheint, die Henisch in prägnant-melodischen Sätzen voller Sinnlichkeit beschreibt.

Dann aber begegnen sie eines Abends dem einzigen anderen Gast in ihrem Hotel, einem alten Amerikaner, der wie Hemingway aussieht und seit vielen Jahren nach San Vito kommt. Dieser Mortimer Mellows aus Minnesota erzählt ihnen, wie einst im Mai 1944 sein Jagdbomber über San Vito – und damit hinter der Front – von den Nazis abgeschossen worden und er mit seinem Fallschirm mitten im nahegelegenen Renaissancegarten gelandet sei. Und wie ihm dort die englische Gouvernante einer wohlhabenden italienischen Familie, Miss Molly, die Tür ihres heckenumrankten Häuschens an der Gartenmauer öffnete, um ihn zu verstecken.

Es sei der Beginn einer ungewöhnlichen Liebe gewesen, behauptet Mortimer, deren weiteren Verlauf er dem jungen Paar für den folgenden Abend verspricht. Dazu aber kommt es nicht mehr, anderntags ist der Amerikaner verschwunden. Und von den Dorfbewohnern scheint niemand etwas über Mortimer und Miss Molly zu wissen. „E allora?, sagte Marco. Was machen wir jetzt mit ihnen? / Wir fühlen uns ein, sagte Julia. Wir versetzen uns in ihre Haut.“ So beginnen die beiden, fasziniert von der starken Anfangsszene und dem magischen giardino, ihr Projekt – versuchen mittels ihres Möglichkeitssinns und ihrer Empathie herauszufinden, wie es mit Mortimer und seiner Miss Molly weitergegangen sein könnte, als Stoff für Marcos ersten Film.

Dieser wird, so viel sei verraten, nie gedreht werden. Und doch wird dieses Projekt dieser jungen Liebe Dauer verleihen, für einige Jahre zumindest, in denen Julia und Marco immer wieder nach San Vito kommen und ihre Geschichte weiterspinnen. Bis irgendwann die Widrigkeiten einer Fernbeziehung und Marcos dominante Mutter übermächtig werden. Bis dahin – und vielleicht eines Tages ja wieder? – leben seine Protagonisten vor, was Peter Henisch zeitlebens vertreten hat, den kunstfeindlichen Provokationen seiner Generation, der 68er, zum Trotz: dass Literatur etwas „mit Befreiung zu tun haben sollte, mit Freiheit, auch mit Freiheit der Phantasie“, wie er es einmal in einem seiner Interviews formulierte.

Damit bietet der neue Roman aber auch die Umkehrung zu der berühmten, eine Flut von Vater-Sohn-Geschichten initiierenden Kernaussage von Henischs Romandebüt „Die kleine Figur meines Vaters“ (1975): „Was du mir vorgelebt hast, mag ich nicht nachleben“. Nur: Wer ist hier Vor-, wer Nachbild? Wenn sich Julia und Marco vorstellen, und nicht nur vorstellen, wie sich Mortimer und Molly einst zum „Überleben und Überlieben“ vor den Nazis in einem verfallenen Haus am Fluss versteckt und dort geliebt haben könnten – spielen sie diese Szene dann nach oder für ihr Filmprojekt einander vor? So kommt es in Henischs Roman zu einer aufregenden Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft, für die der steinerne Januskopf im Renaissancegarten symbolisch steht. Und die noch dadurch verstärkt wird, dass auch der Erzähler, der mit seinen Voraus- und Rückblicken gekonnt immer wieder die Leselust anfacht, die Geschichte von Julia und Marco im Möglichkeitsmodus erfindet.

Titelbild

Peter Henisch / Walter Famler: Außenseiter aus Passion. Texte zu Politik, Literatur und Gesellschaft (1972-2013).
Sonderzahl Verlag, Wien 2013.
400 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783854493884

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Titelbild

Peter Henisch: Mortimer & Miss Molly. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2013.
319 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783552062252

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