In Begleitung stummen Selbstgesprächs

Über Alban Nikolai Herbsts Roman „Argo. Anderswelt“

Von Almut OetjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Almut Oetjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alban Nikolai Herbst hat 1983 mit „Die Verwirrung des Gemüts“ einen Romanzyklus begonnen, zu dem „Wolpertinger oder Das Blau“ (1993), „Thetis. Anderswelt“ (1998), „Buenos Aires. Anderswelt“ (2001) und „Argo. Anderswelt“ (2013) gehören. Die drei letztgenannten Bücher bilden innerhalb dieses Zyklus’ die sogenannte Anderswelt-Trilogie.

Zu Beginn des mehr als 900 Seiten umfangreichen „Argo. Anderswelt“ sprengt Alban Nikolai Herbst seine Stadt, die sich aus verschiedenen europäischen Großstädten zu der Megametropole „Buenos Aires“ zusammensetzt. Dieses Patchwork aus Städten erlebt eine Apokalypse, wie sie in einem schöpferischen Gehirn Platz hat und sich darin auch ohne mentale Auswirkungen ereignen kann. „Das zischende Abwasser nahm Scheiße Kondome Gekotztes, von unten dreißig vierzig Meter hochjagend, zurück in explodierende Klos, Sitzbrillen barsten, die Splitter steckten in Skrotum und Gedärm, durchbohrten einen bis in den Kehlkopf.“

Herbsts Beschreibung des Untergangs erweckt den Eindruck einer ökologischen Katastrophe, vielleicht auch einer atomaren. Manche Beschreibungen gleichen derartigen Szenarien aus der Zeit des letzten großen Krieges, manche Szenarien aus den Tagen danach. Später im Text wird deutlich, dass es einen Krieg gibt, ausgetragen zwischen Ost und West und die apokalyptische Ausgangssituation einen Anschlag aus dem Osten beschreibt.

Ist dieser Einstieg in den Roman eine Art Prolog in oder Bericht aus der Hölle, so wechselt Herbst im folgenden Kapitel abrupt auf ein Glossar. Darin kann man nachschlagen, wenn man während der Lektüre einen Namen oder Zusammenhang klären will. Man kann „Argo. Anderswelt“ aber auch geschlossen lesen, ähnlich dem Lexikonroman „Das Chasarische Wörterbuch“ von Milorad Pavić, wobei es keine Rolle spielt, ob die Lektüre linear oder entlang Verweisen erfolgt.

Im Zusammenhang von Wiedergabeproblemen mit Software bearbeiteter Texte wurde in den 1980er-Jahren das bekannte Akronym WYSIWYG (What You See Is What You Get) geprägt. Auf die Lektüre von Literatur ließe sich dieses Akronym wandeln in WYRIWYG, wobei See durch Read ersetzt wird. Für literarische Texte bedeutet diese Regel, dass Leser genau das bekommen, was sie lesen. Aber mitunter halten sich Texte nicht daran, gelegentlich entfernen sie sich sehr weit von dieser Regel. Alban Nikolai Herbsts Trilogie gehört zu den Büchern, in denen sie kaum mehr wahrnehmbar ist. Das macht die Trilogie, oder hier: „Argo. Anderswelt“, für Leser zu einer Zumutung. Die Kehrseite der Zumutung ist in diesem Fall die Herausforderung. Eine einmalige Lektüre eines derart komplexen Romans kommt deshalb kaum über Leseeindrücke hinaus.

Manches, wovon wir lesen, ist aus unserer Lebenswirklichkeit bekannt. Anderes scheint aus der Anderswelt in unsere Welt  beim Lesen hineinzugelangen. Menschen halten sich in der Stadt auf und dreidimensionale Doppelgänger von Menschen, Holomorfe, die vom Original zu Veranstaltungen geschickt werden, ähnlich wie in David Maruseks „Wir waren außer uns vor Glück“. Urlaub wird wie in Philip K. Dicks Erzählung „Erinnerungen en gros“, von Paul Verhoeven verfilmt als „Die totale Erinnerung – Total Recall“, nur noch simuliert. Die Ökonomie ist in „Argo. Anderswelt“ definiert als Informationssystem, physische Präsenz in Form von Arbeitern, Vorleistungen et cetera damit zur außerökonomischen Kategorie geworden.

Zugriff auf die Holomorfe mag ein Programmierer haben, ihr Schöpfer, ihr Verwalter und der sie über Reprogrammierung Verändernde, der vielleicht unbewegt vor seinem Rechner sitzt.

In der Welt von „Argo. Anderswelt“ entwickeln künstliche Intelligenzen, die von Menschen äußerlich nicht zu unterscheiden sind, Bewusstsein und Gefühle. Buenos Aires wird angereichert mit einem gut durchgekneteten Mythenteig. „Argo. Anderswelt“ verbindet die Cyberwelt und die Odyssee in seiner Suche nach dem zweiten Odysseus, oder ist es des Helden second coming? Bei alledem ist diese Welt eine, die über Stellschrauben und Knotenpunkte steuerbar ist. Sie ist an ihren Schöpfer gekoppelt, der sie vor uns ausbreitet und verändert.

Die genannten Orte weisen dabei eine seltsame Beliebigkeit auf. Sie sind vielleicht austauschbar, da nicht spezifiziert, eher noch aber erwecken sie den Anschein von physischer Nicht-Existenz.

Tatsächlich wird allein durch die Eingangsszene und die Konstruktion der Stadt jedes Konstrukt einer räumlichen Anderswelt aufgelöst in ein geistiges.

In der Fernsehserie „Fringe“ gibt es eine Alternativwelt und mindestens einen Durchgang zwischen beiden Welten. Zugleich aber beanspruchen diese Welten in vereinzelten und konkreten Überlagerungszusammenhängen (beispielsweise Häusern), die als künftiges Katastrophenszenario angelegt sind, den gleichen Raum. Das führt zu einem Flimmern, mit Verschiebungen in der Überlagerungsintensität. Ein ähnliches Phänomen ist auch in „Argo. Anderswelt“ beobachtbar.

Wie in Paul Austers „Mann im Dunkel“ kommuniziert der Schöpfer mit seinen Wesen, aber sie erzeugen auch aktive Rückkopplungen auf ihn und seine Welt. Der Ich-Erzähler in „Argo. Anderswelt“ ist eine Fiktion des Autors, der vielleicht eine Fiktion des Ich-Erzählers ist. Die Welt des Romans findet in seinem Kopf statt, was gelegentlich von diesem Kopf angesprochen wird, und sie ist zugleich entgrenzt. Die narrativen Ebenen sind, scheint es, durch Membranen voneinander getrennt, die Durchlässigkeit erlauben und sogar wechselseitige Beeinflussungen.

Die ganze Erzählung erscheint als ein Programm, und wie dieses liest sie sich oft ohne inhaltlichen Zusammenhang. Einzelne Geschichten sind Unterprogramme, vielleicht gibt es sogar eingebaute Programmierfehler, Textzeilen, die im inhaltlichen Widerspruch zu anderen stehen.

Herbst erzeugt eine Sprachkomposition aus Hochsprache, Umgangssprache, Fachterminologien, Neologismen, Fantasiebegriffen. Er adressiert bisweilen die Leser direkt. Alles fällt ineinander, die Welt mit der Anderswelt, die Dystopie mit der lebenswerten Welt, das Rauschen mit der Resonanz, strukturelle Kompatibilität spielt keine Rolle, es wird etwas zu heterogenem Brei zusammengemischt, das nur in der Konsistenz als Brei Homogenität erkennen lässt, die aber tatsächlich eine Illusion ist, weil sie klare Struktur, Eindeutigkeit suggeriert, wo es diese nicht geben kann, es sei denn in der Reduktion. Herbst wehrt sich gegen die strenge Form und Struktur sogar in den Kapitelnummerierungen, die mitten im Satz stehen.

Bisweilen wird kritisch über das Internet gesagt, es verändere die Lese- und Rezeptionsgewohnheiten. Auch Herbst kann dies bewirken, so man sich auf sein Buch einlässt. Zwei der grundlegenden Fragen, mit denen Literatur sich beschäftigt, sind: Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Herbsts Roman fragt dagegen, was meist als beantwortet unterstellt wird: Wer und wo sind wir überhaupt?

Titelbild

Alban Nikolai Herbst: Argo. Anderswelt. Epischer Roman.
Elfenbein Verlag, Berlin 2013.
872 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783941184244

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