Nichts mehr da?

Drei Jahre nach „Fukushima“

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

„Jetzt ist das Wasser alleiniger Herr und fängt uns in unsrer Furcht. Ich blicke über eine Einöde, die keine zwei Öden mehr übriggelassen hat. Nichts mehr da.“

Elfriede Jelinek, „Fukushima-Epilog“ (2012)

Fukushima taugt kaum noch zum Medienspektakel, hat sozusagen abgewirtschaftet als sehenswerte Katastrophe. Der weltgrößte Atomunfall wird auf IOC-taugliche Maße kleingeredet, besorgniserregende Strahlungswerte sind auf den offiziellen Dosimetern selten ablesbar. Die Kameras wenden sich neuen Krisenherden zu.

Wann der Text kommt, weiß keiner: Niemand hat ihn bis jetzt geschrieben, den einen Text, der „Fukushima“ literarisiert und damit für die Dreifachkatastrophe steht wie „Schwarzer Regen“ (1965) von Ibuse Masuji für die Erfahrung von Hiroshima. In seinem aktuellen Werk „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ (2013) verzichtete Murakami Haruki jedenfalls darauf, die Ereignisse um Erdbeben, Tsunami und Atomhavarie zu behandeln. Die zweite Generation einer Literatur des Atomaren ist in Japan, dem Land, in dem sich innerhalb einer zeitgeschichtlichen Phase die atomaren Erfahrungen paradoxerweise von Hiroshima bis Fukushima erstrecken, erst im Werden. Auch im Westen gibt es derzeit nur wenige Werke, an die man sich später noch im Zusammenhang mit „Fukushima“ erinnern möchte, darunter ein Stück und ein Beitrag von Elfriede Jelinek – „Kein Licht“ (2011) und „Fukushima-Epilog“ (2012).

Literatur nach Fukushima

Auf japanischer Seite entstanden bereits im Jahr 2011 Verarbeitungen in sogenannter Romanform, das heißt längere Prosastücke – die Autoren sind Takahashi Gen’ichirô („Das verliebte Atomkraftwerk“) und Yoshimoto Banana („Sweet Hereafter“). Kürzere Arbeiten, die heute schon als Schlüsseltexte gelten dürfen, sind Kawakami Hiromis „Der Bärengott“ (Juni 2011) und Tawada Yôkos „Insel der Unsterblichkeit“ (2012).

Nicht die Kurzgeschichte oder der Roman dominieren indes die Post-Fukushima-Literaturszene, sondern Lyrik und Essay. Wagô Ryôichis Twitter-Gedichte, die nur wenige Tage nach den Ereignissen verschickt wurden, stellen die unmittelbarste literarische Reaktion dar. Sehr vielfältig zeigen sich zahlreiche Zeitzeugen-Protokolle zur Situation im Nordosten, die als Reportagen, Reiseberichte und Meinungsbilder auf eine Wiederkunft des Essayistischen schließen lassen. Diese Notizen entstanden oft als Auftragsarbeiten – Verlage baten bei Schriftstellern um Kommentare oder schickten Autoren zu einschlägigen Orten, um von ihnen Äußerungen zur Lage zu erhalten.

Mit der Bitte um ihre Ansichten wurden die Schreibenden veranlasst, eine „Position“ gegenüber dem Geschehen einzunehmen; diese äußerte sich zunächst schon darin, ob man „nur“ das Erdbeben und den Tsunami thematisierte oder ob man auch der radioaktiven Strahlung Aufmerksamkeit schenken wollte – insofern manifestieren sich in den Zeilen philosophische Ansätze und politische Schlüsse. Diese „Literatur als Auftrag“ forderte von den japanischen Literaten eine rasche Verbalisierung des Unbegreiflichen, um es fassbar und ertragbarer zu machen, provozierte aber auch pointierte Bemerkungen zum Machtgefüge des „Atomdorfs“ sowie zur Willfährigkeit aller, sich im Hinblick auf die Hintergründe der landeseigenen Stromversorgung nicht früher informiert und engagiert zu haben. Manche der gewünschten Einlassungen dienen als bibliotherapeutischer Trost, manche als Bewertung, die zum Weiterdenken auffordert und die Grundlage für eine Systemkritik darstellt, wieder andere echoen Pressephrasen wie die vom „unvorhersehbaren“ (sôteigai) Unglück oder fallen in einen patriotischen Ton.

Bemerkenswert ist auch der Umstand, dass westliche Schriftsteller die Katastrophe ihrerseits rasch als Stoff nutzten. Schnell war zu Beispiel William T. Vollmann in der „Sperrzone Fukushima“und lieferte seinen „Bericht“ (2011). Daniel de Roulet verfasste im Mai 2011, zügig wie kein anderer, „Fukushima mon amour. Brief an eine japanische Freundin“ – wobei der französisch-schweizerische Autor seine Bestürzung über die Folgen der Katastrophe aus gebührendem Sicherheitsabstand schrieb.

Österreich spricht: Interkulturelle Kommunikation und die Katastrophe

Bemerkenswert ist zudem, dass sich eine ganze Gruppe österreichischer Akteure der Literaturszene der Lage in Japan beziehungsweise Fukushima angenommen hat. Zum einen ist die eingangs zitierte Elfriede Jelinek zu nennen, deren Beiträge im Jahr 2012 in japanischen Inszenierungen (Miura Motoi, Takayama Akira) vorgestellt wurden. Österreichische und japanische Kulturförderungen hatten Begegnungen und Buchpublikationen unterstützt.

Der Band „Nachbeben Japan: 12 Standpunkte“ (2012), veröffentlicht beim Luftschacht Verlag Wien, enthält eine Reihe von Kommentaren österreichischer Schriftsteller, Journalisten und Dozenten – vier der Autoren waren wenige Wochen nach 3/11 in Japan. Erwin Einziger berichtet von seinen Lesungen, Seminaren, seiner Erdbebenangst und den verschiedenen Eindrücken, die er während seines Aufenthalts im Land gewinnt. Begleitet hat ihn der Kollege und Deutschlektor Leopold Federmair, der seinerseits im Band „Die großen und die kleinen Brüder. Japanische Betrachtungen“ (2013; gefördert vom Land Oberösterreich) von seinem Leben in Japan vor und nach der Katastrophe erzählt. Die Journalistin und Japanologin Judith Brandner verhilft zu Einblicken in die Routinen der Medien, die „Fukushima“ konsumentengerecht in Szene setzen möchten. „Emotionen“ müssten beim Leser geweckt werden, habe die Redakteurin einer deutschen Monatszeitschrift gefordert und sich „wild“ an dem von Brandner abgelieferten Text zu schaffen gemacht: „Klischeebilder hinzufügen, Geishas und Kirschblüte bitte sehr“, auch in einer Jahreszeit, in der im Norden Japans noch der Schnee liegt. Wenn die Journalistin Medienkritik betreibt, schließt sie sich mit ein. Japan ist ihr „Material“.

Die Kommunikation über Japan als betroffenes Land und mit den japanischen Kollegen, mit denen sich die Autoren austauschen, verläuft in differenzierteren, besonnenen Bahnen. In Brandners Beitrag wird es klar, dass Assoziationen zu Japan künftig auch immer „Fukushima“ mit einbeziehen. Für sie ist der Ort dauerhaft in ihren Gedanken zugegen: „Man kann Fukushima nicht ausblenden“. Ebenso lässt Xaver Bayers lyrische Prosa erkennen, dass die Stromsparmaßnahme am Bahnhof eine neue Zeit für Japan und seine Gäste bedeutet. Ein betreuender Professor meint, er sollte besser den Schirm aufspannen, denn „heute sei der Regen vermutlich leicht radioaktiv“; radioaktive Niederschläge – ein Bestandteil des alltäglich freundlich verlautbarten Wetterberichts.

Experten im Vergessen?

Der japanische Autor Takahashi Gen’ichirô, dem zeitgleich mit Yoshimoto Banana schon im November 2011 eine erste literarische Adaption von „Fukushima“ gelang, hat in einem seiner zahlreichen Kommentare zur Dreifachkatastrophe die japanische Neigung zu bedenken gegeben, unangenehme Dinge nicht wahrnehmen zu wollen: „Wir Japaner sind Experten im Vergessen unerfreulicher Dinge wie Schrecken des Kriegs oder Umweltverschmutzung – so können wir unser alltägliches Leben weiterführen“ (Takahashi 2012). Auch Sakamoto Ryûichi spielt auf eine landestypische „Schweigekultur“ an, wenn er für seine Homepage das Motto wählt „Schweigen nach Fukushima ist barbarisch“ beziehungsweise nach Fukushima „seine Stimme nicht zu erheben“ sei barbarisch. Den Satz in Anspielung auf Theodor W. Adorno hatte der Musiker im Oktober 2011 während einer Rede in Oxford geprägt. Bei diesem Anlass wünscht er sich auch, dass das Geschehen vom 11. März 2011 den Ausgangspunkt für die weltweite Erkenntnis darstellen möge, dass das Atomare und der Mensch nicht zusammen existieren können. „Fukushima“ habe dem Traum von der friedlichen Nutzung der Kernenergie ein Ende gesetzt (Sakamoto 2011).

Ungeachtet vieler Appelle prominenter Fürsprecher für den Austritt aus der Atomenergie, hat die Mehrheit der japanischen Bürger im Dezember 2013 beschlossen, dem konservativen Abe Shinzô die Regierungsverantwortung zu übertragen. Mit dieser Wahl bekam die Bevölkerung in Form des „Staatsgeheimnisgesetzes“ bald ein Redeverbot auferlegt, das in Richtung von zwei Seiten Spekulationen zulässt: Wenn Journalisten, Schriftstellern, Wissenschaftlern, Kulturkritikern und allen anderen Landesbewohnern per Gesetz der Mund verboten werden muss, ahnt die Regierung offenbar, dass die Debatten in der Bevölkerung zum Problem Atomenergie nicht beendet sind; die neue japanische Protestbereitschaft, die sich schon einmal gezeigt hat, könnte also anlässlich der geplanten Wiederinbetriebnahme der Reaktoren wieder aufkommen, mit Großkundgebungen und Einzelaktionen. Anhand weiterer Informationen könnte sich ein herausbildendes politisches Bewusstsein bis hin zu einer Kritikalität weiterentwickeln, die eine Systemveränderung einleitet.

Im Gegensatz zu einem aktuell durchaus spürbaren politischen Engagement der japanischen Bevölkerung wäre aber auch eine Wende zum neuen Nationalismus möglich; dieser schafft eine unheimliche Atmosphäre der Gleichschaltung, wie sie der Essayist, Lyriker und Reporter Henmi Yô beschrieben hat. Um von Problemen im Land abzulenken, schürt die Regierung patriotische Gefühle – ein Streit mit China kommt da gerade recht. Zur Bildung von Nationalstolz dient vor allem das Sportereignis Olympia 2020 – Japan hat die Spiele erfolgreich eingeworben.

Dass der IOC die Entscheidung zugunsten Japans gefällt hat, verdeutlicht den global herrschenden und sicher nicht nur auf Japan beschränkten Zynismus. Alle sind Meister des Vergessens, wenn es sich um Geschäfte handelt, Bedenken treten in den Hintergrund. Keine Gefahr gehe mehr von „Fukushima“ aus, verkündete Premier Abe. Die „Welt“, die ihm Glauben schenkt und nichts als Brot und Spiele will, hilft bei einer trügerischen Renaissance des Landes. „Denn der Wiederaufbau ist eben die Zerstörung der Zerstörung, und damit die Kulminierung der Zerstörung“, hält Günther Anders in seinen Reisenotizen „Hiroshima ist überall“ von 1958 fest. Der Autor bemerkt weiterhin, wie unpopulär die Katastrophe sei, und dass man die Opfer als „Mahner wider Willen“ nicht schätze.

In einigen Jahren, wenn auch die Schriftsteller das Schweigen gelernt haben und die Verlage keine unpatriotisch anmutenden Texte drucken, wird Japan wieder in die sogenannte neue Normalität eingetreten sein, die in genussvoller Repetition des Alltags „Fukushima“ weitgehend ausblendet. Die Region könnte dann als wiederaufgebautes Gebiet ganz vergessen sein. Damit wäre das beschädigte Fukushima zumindest für die Augen „nicht mehr da“. Sein Platz in der öffentlichen Aufmerksamkeit würde bald wieder frei sein – für neue Verwüstung, um mit Günther Anders zu sprechen, am dritten Jahrestag des zweiten großen atomaren Ereignisses in Japan. „Fukushima“, so lauten die Nachrichten von Meeresbiologen und Umweltschützern, beschränkt sich nicht wie Hiroshima und Nagasaki mehr oder weniger auf eine ferne Insel, sondern erreicht die „Welt“ über ihre dunklen Wasser.

Literatur

Anders, Günther (2011): „Hiroshima ist überall, Hiroshima und Nagasaki 1958“. In: Die Zerstörung unserer Zukunft. Ein Lesebuch. Zürich: Diogenes, S. 178-198.

Bayer, Xaver (2012): „Durch das dunkle Fenster in der Helligkeit ist die Zeit angesprungen“. In: Draschan, Jürgen und Vögel, Bertlinde (Hg.) (2012): Nachbeben Japan. 12 Standpunkte. Wien: Luftschacht Verlag, S. 21-26.

Brandner, Judith (2012): „Das Nachbeben findet in mir statt“. In: Draschan, Jürgen und Vögel, Bertlinde (Hg.) (2012): Nachbeben Japan. 12 Standpunkte. Wien: Luftschacht Verlag, S. 27-38.

De Roulet, Daniel (2011): Fukushima mon amour. Brief an eine japanische Freundin. Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartvelle. Hamburg: Hoffmann und Campe.

Einziger, Erwin (2012): „Erinnerungen an eine Japanreise“. In: Draschan, Jürgen und Vögel, Bertlinde (Hg.) (2012): Nachbeben Japan. 12 Standpunkte. Wien: Luftschacht Verlag, S. 57-72.

Federmair, Leopold (2013): Die großen und die kleinen Brüder. Japanische Betrachtungen. Wien: Klever Verlag.

Henmi Yô (2011): Gareki no naka kara kotoba o – watashi no ‘shisha’ e (Worte aus dem Schutt – für meine „Toten“). Tôkyô: NHK Shuppan.

Ibuse Masuji (1998). Schwarzer Regen. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag.

Jelinek, Elfriede (2011): Kein Licht. Homepage von Elfriede Jelinek, http://www.elfriedejelinek.com/

Jelinek, Elfriede (2012): Fukushima-Epilog. Homepage von Elfriede Jelinek, http://www.elfriedejelinek.com/

Kawakami Hiromi (2011): „Der Bärengott“. In: Fischer Rundschau 123 / Heft 1, S. 20-33.

Murakami Haruki (2013): Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki. Köln: Dumont Buchverlag

Sakamoto Ryûichi (2011): “Speech at Hertford College Chapel”, Sitesakamoto.com, http://www.sitesakamoto.com/

Takahashi Gen’ichirô (2011a): Koi suru genpatsu (Das verliebte Atomkraftwerk). Tôkyô: Kôdansha.

Takahashi Gen’ichirô (2012): ‘Ano hi’ kara boku ga kangaete iru ‘tadashisa’ ni tsuite (Anmerkungen zu einer „Wahrhaftigkeit“, über die ich nachdenke seit „jenem Tag“). Tôkyô: Kawade Shobô Shinsha.

Tawada Yoko: „Fushi no shima“(Die Insel der Unsterblichkeit). In:Tanikawa Shuntarô: Soredemosangatsuwa,mata (Und trotzdem ist es wieder März).Tôkyô:Kôdansha,S.11-21.

Vollmann, William T. (2011): Sperrzone Fukushima. Ein Bericht. Berlin: Suhrkamp Verlag.

Wagô Ryôichi (2011): “Fukushima Is Us: The Gravels of Poetry from Fukushima, Ryoichi Wago, and Yuichi Sato.” Arabiki. International Journal of Poetry. http://aabk.wordpress.com/2011/04/22/fukushima-is-us/

Yoshimoto Banana (2011): Suito hiâfutâ (Sweet Hereafter). Tôkyô: Gentôsha.