Verschwörungscartoon

Thomas Pynchons Manhattan-Roman „Bleeding Edge“ evoziert den Beginn des Internetzeitalters

Von Martin Jörg SchäferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Jörg Schäfer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein neuer Roman von Thomas Pynchon gilt stets als Ereignis. Und eigentlich haben ungefähr zehn Jahre zwischen den Publikationen seiner monumentalen Bände zu liegen, höchstens unterbrochen durch Essays oder kurze Erzählungen. Seit der Veröffentlichung von Pynchons bisher dickstem Buch, dem über 1.000seitigen „Against the Day“ („Gegen den Tag“) 2006, scheint sich dieses ungeschriebene Gesetz geändert zu haben. Schon 2009 kamen die unter 400 Seiten des im kalifornischen Hippiemilieu der 1970er-Jahren angesiedelten Detektivromans „Inherent Vice“ („Natürliche Mängel“) heraus. Nun folgen 2013 die „nur“ knapp 500 Seiten von „Bleeding Edge“. Das neue Buch ist gleichzeitig Gegenstück und Weiterführung seines Vorgängers: Es spielt an der anderen Küste im anderen kulturellen Zentrum der USA und widmet sich einer wohl ebenso maßgeblichen kulturellen Umbruchsphase. Im Manhattan des Jahres 2001 hat sich nach dem Platzen der DotCom-Börsenblase der plötzliche Reichtum der meisten jungen, vorrangig männlichen Tech-Unternehmer in Luft aufgelöst. Einige wenige gehen unbeschadet daraus hervor und machen sich mit meist höchst unfeinen Mitteln an den Aufbau jenes Internets, das zum Alltag der Lesenden von 2013 gehört. Inmitten der Platzkämpfe und nostalgischen Untergangsparties bringt der Terroranschlag von 9/11 ein weiteres Ereignis, dessen politische Langzeitwirkungen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von „Bleeding Edge“ immer noch nicht absehbar sind.

Bei allem für Pynchons Texte in dieser Deutlichkeit ungewöhnlichen Gegenwartsbezug wird doch der Stil des vorherigen Hippieromans weitergeführt: Statt wie in den „dicken“ Pynchons zahlreiche Stile, Erzählstränge und Perspektiven miteinander zu verknoten, gegenseitig zu spiegeln und zu konterkarieren bleibt auch „Bleeding Edge“ fast durchgehend bei seiner Hauptfigur, dem einen zu ihr gehörenden Stil und dem einen Blick auf die ihrerseits allerdings denn doch ganz „pynchonesk“ aus vielen undurchsichtig miteinander vernetzten Geschichten, Geschichtchen und Anekdoten bestehende Welt, die paranoide Phantasien und Verschwörungstheorien in Hülle und Fülle inspiriert und so immer weitere Verstrickungen wie offene Enden hervorbringt. Gleich ihrem Vorgänger Luc Sportello ist auch Maxine Tarnow Privatdetektivin; wie er ist auch sie selbst nicht ganz mit dem Gesetz im Reinen. Beide Figuren orientieren sich an den „hardboiled detectives“ der amerikanischen Erzähltradition. Dass deren Ermittler kein ausgemaltes Innenleben besitzen und ihr Bild über Handlungen und Dialoge entsteht, passt zu Pynchons bisherigen Figuren und zu diesen beiden besonders.

Und auch die dazugehörigen Elemente des Groschenromans passen wunderbar in das für Pynchon schon immer typische Spiel mit popkulturellen Details und Mythen. Seine Albernheit treibt bei beiden neue Blüten und wird immer mehr eine der Figurenrede: Sportello und seine Kumpanen waren meist bekiffte Kleinkriminelle und hinkten den Ereignissen, die sie mit sprachlichen Mätzchen einzufangen suchten, entsprechend hinterher. Maxine ist, wie die Erzählstimme in komischer Gebetsmühlenartigkeit betont, „typische New Yorkerin“. Und damit ist gemeint, dass sie in einer merkwürdigen Mischung aus Starrköpfigkeit und Improvisationslust schnell, schlagfertig, mit dauerhaft ausgefahrenem Ellenbogen und viel zu losem Mundwerk agiert, um sich in den Strömungen der Stadt zu bewegen, statt von ihnen überwältigt zu werden. Neben den von ihr beruflich benötigten Pistolen und Revolvern sind die komprimierten Pointen und die anarchische Kraft ihres Sprechens ihre Waffen – und die der restlichen „typischen“ New Yorker Bevölkerung natürlich auch, mit den zu erwartenden Folgen.

Maxine, Mitte 40, ist in der x-ten Generation Bewohnerin der sich in den vorherigen Jahren rasch yuppisierenden Manhattaner Upper West Side und getrennt lebende Mutter von zwei Söhnen. In den sich im Alltag ausbreitenden digitalen Technologien ist sie völlig unbeschlagen und bleibt eigentlich auch desinteressiert. Doch die ihrer Lizenz verlustig gegangene und daher oft in der Schattenökonomie tätige Betrugsprüferin („fraud examiner“) gerät durch Gefälligkeiten und Freundschaftsdienste an die inoffizielle Kontrolle der Internetfirma „Hashslingrz“, die den Crash verdächtig gut überstanden hat. Die Spuren der finanziellen Ungereimtheiten bei „Hashslingrz“ führen Maxine in ein Gewirr von Spekulationen und Verschwörungstheorien: Die Firma ist nicht nur dabei, Technologien aufzukaufen, umzustrukturieren oder weiterzuentwickeln, die an Stelle des wilden und provisorischen Internets der 1990er-Jahre ein kommerziell organisiertes und streng kontrolliertes Gebilde setzen, das sich unschwer als Vorläufer des Internets der Gegenwart erkennen lässt. Auch bestehen anscheinend Verbindungen zu kriminellen Aktivitäten: Morde geschehen; die amerikanischen Geheimdienste tauchen ebenso auf wie potentielle arabische Terroristen, der israelische Mossad und „die Russen“. Alle haben Maxine uneinsichtig bleibende, mehr oder weniger ausgeprägte Fähigkeiten zur gegenseitigen Überwachung. Jede neue Fährte führt in diverse Sackgassen und eröffnet diverse Anschlussmöglichkeiten. Jede Verschwörungstheorie ist so plausibel und so unplausibel wie die nächste. Der permanent auf Hochtouren laufende Sprachwitz wird durch cartoonartige Versteckspiele und Verfolgungsjagden gedoppelt. Eine Fülle von historischen Details aus der jüngeren und weniger jungen Vergangenheit (wie Vorzeichen des Madoff-Betrugs) werden mit möglichen historischen Bonmots (im Fernsehen läuft ein Tschechow-Biopic mit Edward Norton) und offensichtlichen Fantasy-Elementen durchmischt. Zahlreiche von Pynchons Figuren haben wieder plakativ-sprechende Namen: Gabriel Ice, Nicholas Windust, Conkling Speedwell. Jede Buchseite bringt mindestens eine pointierte Anekdote oder einen Gag, von denen die meisten zünden. Während Maxines eifersüchtiger Ex wieder in ihr Leben zu treten im Begriff ist und sie dem eigentlich mehr als aufgeschlossen gegenüber steht, taumelt sie doch genussvoll in das eine oder andere Affärchen (mit einem Fußfetischisten oder einem Killer-Agenten) und muss selber zusehen, wie sie die eigenen Spuren verwischt.

In den Fußstapfen von Pynchons erster großen weiblichen Heldin, Oedipa Maas aus „The Crying of Lot 49“ von 1966, dreht Maxine jeden Stein um und schafft nur neue Verwirrung. Immer wenn die Untersuchung gegen eine Wand läuft, bringt ein Fahrradkurier wichtige neue Hinweise ohne Absender. Abstruse Figuren von 100 Seiten zuvor tauchen auf, und man müsste zurückblättern, um sich an ihre Hintergrundgeschichte zu erinnern. Die Pynchon-Gemeinde weiß, dass man dies auch sein lassen kann: Es wird keine Auflösung des Rätsels und der Rätsel geben, nur das sprachwitzig immer weiter verknüpfte Gewirr aus Paranoia und Verschwörungstheorien, von dem Maxine getrieben, aber nicht überwältigt wird. Die wichtigen Dinge passieren sowieso hinterrücks und ohne ihren Einfluss: Maxine Söhne sind am Ende des Romans mit einem Mal so groß geworden, dass sie nicht mehr von Mama zur Schule begleitet werden wollen.

Die Terroranschläge vom elften September bringen hingegen im letzten Drittel des Buchs nur tonal eine kurze Zäsur. Die Erzählstimme verlässt Maxine, und in einigen der berührendsten Passagen des Texts beschreibt sie die paralysierte und gedrückte Stimmung in der Stadt, um sich dann in Schimpftiraden zu ergehen: über diejenigen, die keine Zeit verschwenden, Schock und Trauer für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren, und diejenigen, die sich instrumentalisieren lassen. Auch das „newspaper of record“, die New York Times, kommt hier nicht gut weg. Doch am prägnantesten wirken erneut die kleinen Details: wie im Manhattan nördlich der 14ten Straße die Anschläge als ein surreales Medienereignis erfahren werden. Wie die Bewohnerinnen und Bewohner zum ersten Mal in ihrem Leben der Polizei große Sympathien entgegenbringen wollen, diese sich aber noch unausstehlicher gibt als sonst. „Bleeding Edge“ will jedoch kein 9/11-Roman sein, im Gegenteil. Zu Thanksgiving sind die New Yorker wieder New Yorker und „darüber weg“; auf der Upper West Side schlägt man gemeinsam und lustvoll-gehässig einen sich in der Schlange vordrängelnden Yuppie mit einem gefrorenen Truthahn k.o. Das Buch kehrt zu seinen Figuren und zum cartoonartigen Stil zurück. Die vorher aus den Tiefen und Untiefen des Internets stimulierten Verschwörungstheorien gehen mit allen ihren US-Geheimdiensten, Arabern, Israelis und Russen nahtlos in die 9/11-Verschwörungstheorien über und von dort zurück ins Internet. Keine wird legitimiert, keine entkräftet.

Bereits der Titel „Bleeding Edge“ wirft die Pynchon umtreibende Frage nach Mystifizierung und Dämonisierung von Technologien auf, insbesondere von digitalen. „Bleeding edge technologies“ sind nicht nur der letzte Schrei („cutting edge“), sondern ihre Kante schneidet, bis es blutet: Die ihren Möglichkeiten innewohnende zukünftige Gefahr lässt sich noch nicht abwägen. Pynchon soll schon am College in den späten 1950er-Jahren an einem Musical über die Übernahme der Weltherrschaft durch IBM mitgeschrieben haben. Ein New-York-Times-Essay von 1993 imaginiert die „Versündigung“ gegen die digitalen Technologien mitsamt all ihren „gutgemeinten Absichten“ als eine in der nicht so fernen Zukunft fällig werdende widerständige Praktik. Aber wie alle bisherigen Texte erschöpft sich auch der neue Roman nicht im hohlen kulturkritischen Gestus, der durch die motivische Assoziation des Internets mit dem Terror von 9/11 als Lesart angeboten wird. In Pynchons üblicher Mischung aus so faktensicherer wie detailbesessener Technikgeschichtsschreibung, Fantasy und Groteske kommen auch die meisten anderen Perspektiven zu Wort: Das gerade zusammengebrochene Internet der 1990er-Jahre erscheint als ein chaotisches Konglomerat, dessen Facetten vom Demokratieversprechen bis zur medialen Betäubung reichen. In „Deep Archer“, einer Art Vorform von „Second Life“, auf die alle Handlungsstränge zuzulaufen und dort zu verschwinden scheinen, finden sich im „Deep Web“ die Ruinen all dieser Möglichkeiten aufbewahrt. Das Verblüffende an „Bleeding Edge“ liegt häufig darin, wie weit weg diese gar nicht so weit entfernte und hier liebevoll-sarkastisch aufpolierte Vergangenheit 2013 bereits wirkt. Auch für die billigeren Pointen ist Pynchon sich nicht zu schade: für den von einer 56kbit/s-Verbindung ausgelösten Temporausch, für die Lächerlichkeit, welcher sich drei Jahre vor YouTube die Idee von einer Online-Videoplattform für selbstgedrehte Clips preisgegeben sieht. Die vordergründige Kulturkritik besteht zu einem guten Teil aus Nostalgie mit Augenzwinkern.

Gleichzeitig so nostalgisch wie selbstironisch kommt auch die Beschwörung Manhattans und seiner Bevölkerung daher. In den späten 2000er-Jahren beschreiben Romane wie Richard Prices „Lush Life“ und Jonathan Lethems „Chronic City“ die Entwicklung der Insel zum gentrifizierten (und eher drögen) Museum ihrer selbst und verleihen dem meist finanziell erzwungenen Exodus nach Brooklyn (das inzwischen ebenso teuer ist) eine zusätzliche literarische Legitimation.  Bei Pynchon, seit vielen Jahren selbst auf der Upper West Side wohnhaft, steht das Manhattan von 2001 noch stellvertretend für New York an sich. „As a New Yorker“, „this being New York“, „typically New York“ lauten ständig wiederkehrende Phrasen, die das Verhalten Maxines und ihrer Mitmenschen kennzeichnen: immer dann, wenn diese besonders rabiat und geistesgegenwärtig auftreten. Aber auch immer dann, wenn die Handlung ins vornehmlich Comic- und Slapstickartige kippt. Der erinnerte New York- und Manhattan-Mythos ist bereits zum Cartoon seiner selbst geworden. Und das betrauert „Bleeding Edge“ nicht oder nicht nur, sondern schlägt daraus seine Funken.   

Die hier durchgespielte Strategie lässt sich zu einem guten Stück auf Pynchons literarisches Projekt insgesamt beziehen, dessen aus den 1950er- und 1960er-Jahren stammenden Themen und Verfahren sozusagen „von der Wirklichkeit eingeholt“ worden sind.  Der durchgehenden Faszination für Verschwörungstheorien und sonstige Manifestationen von Paranoia steht mit dem Internet inzwischen ein Medium gegenüber, das mit wesentlich weniger Aufwand  mindestens so viel Paranoia wie ein Pynchon-Roman hervorbringt – und dies sogar manchmal gerechtfertigt (wie in der NSA-Affäre). Gleichzeitig ist Pynchons Sympathie für schrullige Außenseiter und Außenseiterinnen sowie schräge Handlungsverläufe spätestens seit dem sich in den 2000ern durchsetzenden „Qualitätsfernsehen“ kulturelles Allgemeingut geworden. Bei Pynchon selbst, dem mit den Medien Versteck spielenden Meister des Verschrobenen, handelt es sich mittlerweile um eine popkulturelle Figur sui generis, die schon zwei Auftritte bei den „Simpsons“ hingelegt hat. Statt einen Gang zurückzulegen oder gar einen „Altersstil“ zu entwickeln, setzt Pynchon mit „Bleeding Edge“ lieber eins drauf: Auch seine verworrensten Verschwörungsszenarios sind zuallererst Cartoons. 

Es machte keinen großen Unterschied, wäre „Bleeding Edge“ 200 Seiten kürzer oder 300 Seiten länger. Ein großer Handlungsbogen fehlt, auch wenn er immer wieder versprochen wird. Mitglieder der Pynchongemeinde, zu denen sich der Rezensent zählt, kann das nicht überraschen. Sie begeistern sich angesichts der Fülle der kleinen Besonderheiten und komisch-tragischen Erinnerungen an die letzten 20 Jahre, darunter zahlreiche, die es wohl nicht in die neuen Archive von Google und YouTube geschafft haben. Auch für den Neueinstieg in den Pynchon-Kosmos wäre „Bleeding Edge“ damit geeignet. Doch alle, die Pynchon kritisch gegenüber stehen, werden sich von „Bleeding Edge“ wohl noch genervter abwenden als von den bisherigen Romanen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Thomas Pynchon: Bleeding Edge. A Novel.
Jonathan Cape Ltd, London 2013.
477 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9780224099028

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