Eine Begegnung mit Folgen

Paranoia und Wahnvorstellungen eines Neurologen in Andreas Schäfers Roman „Gesichter“

Von Yvette RodeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvette Rode

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Oft ist es nur eine Begegnung, die das Leben eines Menschen von einer Sekunde auf die andere verändern kann. Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Dies muss auch Gabor Lorenz in Andreas Schäfers Roman „Gesichter“ erleben. Schäfer, der 2003 für seinen Roman „Auf dem Weg nach Messara“ mit dem Bremer Literaturpreis und dem Literaturpreis der Lichtburg-Stiftung ausgezeichnet wurde, zeigt in „Gesichter“ wie in dessen Vorgänger „Wir vier“ einen Menschen in der Krise. Am Anfang des Romans verkörpert der Neurologe Gabor einen erfolgreichen Mittvierziger, der in seinem Leben beruflich und privat alles erreicht hat: er steht vor der Berufung zum Professor, ist glücklich mit der Kunsthistorikerin Berit verheiratet und lebt mit ihr und den gemeinsamen Kindern Nele und Malte in einem Haus in einer Berliner Vorstadtsiedlung. Gabor scheint ein perfektes Leben zu haben. Im Sommer macht er mit seiner Familie Urlaub in Griechenland. Am Hafen von Patras beobachtet Gabor, wie ein Mann auf einen Lastwagen springt, um unbemerkt auf die Fähre zu gelangen, mit der auch er und seine Familie nach Italien übersetzen. Die gesamte Überfahrt kann Gabor an nichts anderes mehr denken, als an den Mann. Deshalb beschließt er, ihn zu suchen. Als er ihn gefunden hat, wirft er vor Schreck eine Tüte mit Bananen in den Lastwagen und verliert dabei versehentlich seine Urlaubskarten, auf denen seine Adresse steht. Kurz darauf wird der Mann festgenommen. Seiner Frau und den Kindern erzählt Gabor nichts von dem Vorfall. Er ahnt nicht, dass diese Unachtsamkeit sein Leben aus den Fugen geraten lässt.

Daheim in Berlin denkt er nicht mehr an den Mann, bis kurze Zeit nach dem Urlaub die Karten bei ihm ankommen. Seitdem ist nichts mehr so, wie es vorher war. Gabor ist davon überzeugt, dass der Mann von der Fähre ihn verfolgt und hat seitdem immer wieder dessen „hasserfüllte[n] Blick“ vor Augen. Gabor wird immer paranoider und beachtet nicht, dass sich seine Tochter Nele immer mehr von ihrer Familie zurückzieht. Auch mit seiner Frau streitet er sich nur noch über belanglose Sachen. Als Nele plötzlich verschwindet, erzählt Gabor Berit und der Polizei von dem Vorfall auf der Fähre, da er davon überzeugt ist, dass der Mann sie entführt hat, um sich an ihm zu rächen. Die heile Vorstadtidylle von Familie Lorenz droht zu zerbrechen. Gabor muss nicht nur um seine Tochter bangen, sondern auch um seine Ehe, da Berit ihm misstraut: „Ich weiß nicht, was ich glaube. Ich weiß nur, dass du Dinge gern vergisst. Du siehst nur das, was du sehen willst.“

Mit „Gesichter“ ist Schäfer wie bei seinem Vorgänger „Wir vier“ ein hervorragender, genreübergreifender Roman gelungen, der eine Mischung aus Krimi, Psychothriller und Familiendrama ist. Schäfer zeigt anhand seines Protagonisten, wie schnell sich das Leben eines Menschen ändern kann. Aus dem verantwortungsbewussten Familienvater und angesehenen Mediziner wird im Laufe des Romans ein Nervenbündel, der sich so sehr in seine Wahnvorstellungen versteift, dass er seine Familie und seinen Beruf vernachlässigt. Am Ende des Romans wird deutlich, dass Gabor Neles Verschwinden hätte verhindern können, wenn er bemerkt hätte, wie schlecht es ihr geht.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Andreas Schäfer: Gesichter. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2013.
253 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783832196646

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