„So wichtig, dass das mal dokumentiert wird!“:
Schreiben in Ost und West – Maria Becker untersucht die Arbeitsbedingungen vor und nach der Wende von Kinder- und Jugendbuchautoren aus der ehemaligen DDR
Von Kirsten Kumschlies
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Thema „Arbeitsbedingungen von DDR-Autoren“ ruft wohl in vielen Fällen spontan die Assoziation mit Einschränkung durch Zensur hervor, frei nach dem Motto: Nach der Wende waren die Schreibenden endlich diese Einschränkungen los. Doch Maria Becker zeigt mit ihrer höchst interessanten Studie auf, dass es sich bei diesem Feld um ein erheblich komplexeres Bedingungsgefüge handelt. In den Mittelpunkt ihrer durch und durch spannend zu lesenden Arbeit stellt sie Fallanalysen inklusive narrativer Interviews mit sechs Kinder- und Jugendbuchautoren aus der ehemaligen DDR: Christa Kozik, Wolf Spillner, Jutta Schlott, Peter Abraham, Uwe Kant und Günter Saalmann.
Leitend für die Untersuchung sind folgende Fragestellungen: Welche Faktoren beeinflussen die Stabilität der Systemintegration vor und nach 1989/1990? Welche Systemkonstanten erfahren renommierte DDR-Kinder- und Jugendbuchautoren vor und nach 1989/1990 als förderlich, welche als restriktiv? Welche literarischen und außerliterarischen Strategien benutzen renommierte DDR-Kinder- und Jugendbuchautoren vor und nach 1989/1990 als Reaktion auf Systemgrenzen und welche Konsequenzen sind zu konstatieren?
Die Arbeit gliedert sich in acht Kapitel. Nach der Darlegung des (marginalen) Forschungsstands beschreibt Becker im zweiten Kapitel die konstitutiven Merkmale der DDR-KJL, nachfolgend geht sie auf das gesamtdeutsche Handlungssystem KJL ein, indem sie sowohl spezifische Bedingungen der BRD als auch der DDR beschreibt. Im vierten Kapitel bezieht sich die Autorin auf Theodor W. Adornos Theorie der Kulturindustrie, die sie auf das (bundesdeutsche) Verlagswesen im Sektor der KJL bezieht. Bevor sie zu den einzelnen Fallanalysen und den narrativen Interviews mit den Autoren kommt, stellt sie gemäß den Prämissen der Qualitativen Forschung die Methodik ihrer Studie vor. Bei der Auswertung der in den leitfadengestützten Interviews erhobenen Daten folgt sie den Prämissen der Grounded theory.
Das Herzstück der Arbeit und auch den lesenswertesten Teil des Buches bildet die prägnante Darstellung der Autoreninterviews, die sich in unterschiedliche Leitthemen aufteilen. Die Fallanalysen kann Becker zum Abschluss in eine verallgemeinernde Zusammenschau überführen, in der sie zentrale Merkmale der Interviews miteinander vergleicht. Vor diesem Hintergrund kommt sie zu dem Ergebnis, dass sich die Autoren allesamt (trotz diverser Unterschiede in den einzelnen Biografien) auch vom Handlungssystem KJL der BRD stark eingeschränkt fühlten, vielleicht sogar stärker als durch die Zensur der DDR: „Einige der Autoren fühlen sich nach 1989/1990 mit Situationen konfrontiert, die ihre bisherigen Zensurerfahrungen sogar übersteigen,“ heißt es im Resümee. Dieser Befund korrespondiert unmittelbar mit der engen Beziehung, die die DDR-Autoren nach eigenen Angaben zu den Kinderbuchverlagen hatten, insbesondere mit dem Kinderbuchverlag Berlin. Folgerichtig bindet Becker in ihre Untersuchung auch Interviews mit der Cheflektorin Katrin Pieper und dem Verlagsleiter Fred Rodrian ein, durch die sich die Berichte der Autoren bestätigen. Vor diesem Hintergrund ist ein eklatanter Bruch im Schaffen der Autoren nach der Wiedervereinigung festzustellen. „Allen Autoren ist gemeinsam, dass sie einen positiven Umgang in der DDR und für sie inakzeptable Interaktionen in der BRD wahrnehmen“, fasst Becker in ihrem Schlusskapitel zusammen. Die inakzeptablen Bedingungen in der BRD benennt sie mit folgenden Kriterien: Verweigerung der Buchrechte an den DDR-Titeln der Autoren, keine Rückmeldungen (unter anderem in Bezug auf Anfragen hinsichtlich des Rückerhalts von Buchrechten), fehlerhafte Honorarabrechnungen, unzureichende Informationspolitik (unter anderem in Bezug auf den Verkauf des Kinderbuchverlags Berlin 1992), diskreditierende Kommunikation und Interaktion (partiell in Verbindung mit der Missachtung des vorherigen literarischen Status). Die Autorin fügt an: „Die fünf Kriterien beruhen nicht zwangsläufig auf einem Vergleich mit dem als positiv wahrgenommenen KJL-System der DDR, sondern auf dem jeweiligen Verständnis von Fairness.“ Die negativ wahrgenommenen Arbeitsbedingungen in der BRD nach der Wende führen bei allen hier in den Blick genommenen Autoren zu einem eklatanten Rückgang der Publikationen beziehungsweise sogar zur Aufgabe des kinderliterarischen Schreibens. Die Autoren begründen die mangelnde Motivation, sich in das bundesdeutsche KJL-System integrieren zu wollen, mit dem „fehlenden Bezug zu Kindern beziehungsweise kinderliterarischen Stoffen sowie die neuen kapitalistischen Bedingungen des KJL-Systems der BRD“ – oder in den Worten des Autors Günter Saalmann: „Wir passen nicht in die Wirtschaft!“
Problematisch an der Studie ist vielleicht ihre etwas einseitige Sicht auf die Thematik, die mit der engen Orientierung an den Aussagen der Autoren korrespondiert – was man andererseits auch wieder als Stärke der Arbeit betrachten kann. An mancher Stelle wünscht man sich aber eine stärkere Problematisierung des Zensursystems der DDR. Fragwürdig ist, dass Becker in ihrem Resümee die Zensurpraxis der SED auf eine Stufe mit der marktwirtschaftlich motivierten Einflussnahme der Verlage auf Autoren in der BRD stellt, indem sie beides als literarische Lenkung bezeichnet, ohne dies näher auszudifferenzieren.
Doch es bleibt das Fazit: Maria Becker hat mit ihrer Arbeit eine eindringliche und wichtige Studie vorgelegt, der man nur viele Leser wünschen kann (in Ost und West). All jenen, die sich mit der Geschichte der deutschen KJL befassen, sei sie dringend ans Herz gelegt, zumal sie eine wesentliche Forschungslücke schließt. Ausdrücken lässt sich der Wert der Arbeit auch mit den Worten der DDR-Autorin Christa Kozik: „Ich finde das so wichtig, dass das mal dokumentiert wird. Denn es hat ja so viele von uns gelähmt!“
Auch methodisch geht Becker überzeugend vor. Ihr Schreibstil ist gut lesbar und sorgt für ein intensives Leseerlebnis, auch in den theoretischen Kapiteln – gerade deshalb wäre es wünschenswert gewesen, wenn die Autorin zum Abschluss noch etwas stärker auf die eingangs so prägnant referierte Theorie der Kulturindustrie nach Adorno rekurriert hätte, die einzelnen Teile der Arbeit somit noch stärker zusammengeführt hätte. Trotzdem bleibt die Studie ein besonderes Verdienst und stellt einen großen Gewinn für die kinderliterarische Geschichtsschreibung dar.