Lebensgefühl einer Kriegsjugend

Zur Wiederveröffentlichung von Ernst Glaesers nahezu vergessenem Anti-Kriegsbuch „Jahrgang 1902“

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Autor Ernst Glaeser zählte durchaus zu den erfolgreichen Schriftstellern und Intellektuellen seiner Zeit, ist derzeit aber allenfalls noch Literaturwissenschaftlern ein Begriff. Und dass, obwohl er mit seinem Roman „Jahrgang 1902“ sogar einen internationalen Bestseller landete, der in 16 Sprachen übersetzt wurde. Allein in Deutschland wurde der Erfolgsroman bis zur Machtergreifung der Nazis 125.000 Mal verkauft. Von Thomas Mann und sogar Ernest Hemingway lobend erwähnt, stand das Buch in einer Reihe mit großen deutschen Antikriegsromanen der 1920er-Jahre wie Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ oder Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“.

Charakteristisch für Glaesers stark autobiografisch geprägten Roman ist die Sichtweise, aus der erzählt wird: Nicht die vermeintlichen militärischen Kriegshelden und die Soldaten im Schützengraben stehen im Mittelpunkt. Vielmehr erzählt der Autor aus der Sicht eines Kindes und Heranwachsenden von den Geschehnissen fernab der Front. Nicht die Kämpfe an sich, sondern das Schicksal der Daheimgebliebenen wird so zum bestimmenden Thema. Mit den Augen des jungen Protagonisten Ernst sieht der Leser nicht nur ein treffendes Abbild der wilhelminischen Gesellschaft mit ihrem Standesdenken, ihrer starren Moral und ihrem Chauvinismus. Zudem erlebt er auch dessen persönliche Entwicklung, in der dieser mit den zeitlosen Problemen der Pubertät um Identitätssuche, Persönlichkeitsentwicklung und aufkeimende sexuelle Bedürfnisse zu kämpfen hat.

Gerade die Darstellung der Sexualität, vom Protagonisten Ernst stets nur als „das Geheimnis“ bezeichnet, mag heute mitunter in ihrer Darstellung etwas krude erscheinen – zur Zeit des Entstehens des Romans reichten die mit leicht homosexuellen Nuancen versehenen Passagen jedoch aus, um konservativen Kräften die Zornesröte ins Gesicht zu treiben. Dies verhinderte den Erfolg des Buches jedoch keineswegs. Viele Zeitgenossen Glaesers empfanden den Roman als Sprachrohr jenes Lebensgefühls, das ihre „Zwischengeneration“ ausmachte: Zu jung, um selbst in den Krieg zu ziehen, aber alt genug, um mit wachen Sinnen die über sie hereinbrechende Katastrophe mitzuerleben, waren sie dem Geschehen hilflos ausgeliefert, das ihre Eltern heraufbeschworen hatten.

„La guerre – ce sont nos parents“ (Der Krieg – das sind unsere Eltern), heißt denn auch nicht von ungefähr der Untertitel des ersten Teils des Romans, der in zwei Bücher unterteilt ist. Das erste Buch ist Ernsts schulischem Werdegang gewidmet. Hier erfährt der Leser von dessen Freundschaft zu zwei Außenseitern: zu Ferd, dem weltgewandten Sohn des „roten Majors“, und zu Leo Silberstein, dem jüdischen Klassenkameraden, dem von Mitschülern wie Lehrern Antisemitismus und Hass entgegenschlägt. Dabei erleben wir aber nicht nur eindringlich den Drill und geistigen Mief der „Erziehungsanstalten“ der wilhelminischen Zeit.

Vielmehr durchdringen Untertanengeist und Obrigkeitshörigkeit alle Bereiche des menschlichen Lebens, was von Ernst in lakonisch nüchternem Stil treffend beschrieben wird. Dazu gehört auch der Kriegsenthusiasmus, von dem er sich zu Kriegsbeginn ebenfalls anstecken lässt, als das ganze Land, scheinbar über alle Klassenschranken und ideologischen Unterschiede hinweg, in einen nationalistischen Taumel verfällt. „Dieser Krieg […] ist ein ästhetischer Genuss sondersgleichen. Zum ersten Mal sehe ich die Volksseele sich entfalten“, beschreibt Glaeser treffend die allgemeine Stimmung aus dem Munde eines Professors.

Doch das „Abenteuer Krieg“ wird sich im zweiten Buch recht bald als trügerisch entlarven. Die Daheimgebliebenen erleben ohnmächtig mehr und mehr, was Krieg wirklich bedeutet: Vermissten- und Todesmeldungen, immer größere Entbehrungen, sodass schließlich die Suche nach Nahrung zum alles bestimmenden Thema des Lebens wird: „Bald sprachen die Frauen, die in grauen Schlangen vor den Geschäften standen, mehr von dem Hunger ihrer Kinder als von dem Tod ihrer Männer. Der Krieg wechselte seine Sensationen“.

In eindringlichen Bildern und klarer, knapper Sprache, gelingt es Glaeser so in beiden Teilen des Romans, den Geist der Zeit, das Leiden der Zivilbevölkerung und das Trauma einer ganzen Generation festzuhalten. Dennoch fehlt bei aller treffenden Kritik an den wilhelminischen Gesellschaftsstrukturen und seiner generell pazifistischen Haltung eine nähere Positionierung des Autors. So bleibt Glaeser auf merkwürdige Weise wenig greifbar. Einen klaren Bezug zu demokratischen / revolutionären Bewegungen seiner Zeit sucht man vergebens, auch wenn Glaeser tatsächlich einige Zeit der Kommunistischen Partei nahestand und 1930 einen Wahlaufruf für sie unterzeichnete.

Dieser mangelnde Niederschlag in dem Roman mag etwas weniger verwundern, wirft man einen kurzen Blick auf die irritierend unstete Biografie des umtriebigen Autors, dessen Schriften zunächst von den Nazis verboten wurden. Im Exil in der Schweiz veröffentlichte er 1935 in Zürich seinen Roman „Der letzte Zivilist“, in dem er sich mit der Machtergreifung der NS-Ideologie aus Sicht eines – in Hoffnung auf ein demokratisches Deutschland zurückgekehrten – Deutschamerikaners befasst. Nach diesem Werk jedoch vollzog er eine ideologische Wende und kehrte 1939 zum Entsetzen seiner Kollegen im Exil „heim ins Reich“, wo er ab 1940 unter anderem als stellvertretender Redakteur in Luftwaffen-Frontzeitungen arbeitete.

So bleibt beim Lesen des Romans trotz seiner sprachlicher Kraft und eindringlichen Bildern dennoch ein gewisses Gefühl der Hilflosigkeit zurück, was auch Kurt Tucholsky (als Peter Panter am 16.12.1930 in der „Weltbühne“) angesichts des Folgeromans „Frieden“ zu fühlen schien: „Ich kann mit diesem Buch wenig anfangen. Das kann an mir liegen. Und deshalb ist der Autor, der eine der saubersten und anständigsten Erscheinungen der jüngern Generation ist, noch lange kein wilder Höllenhund. Er hat Anspruch darauf, gehört zu werden. Der Mann hat episches Talent. Er hat auch einen leisen Humor. Möge er sein Talent von keinem Stoff und von keiner Doktrin auffressen lassen.“

Auch wenn Tucholskys leises Unbehagen durch die wenig nachvollziehbare Wende im Leben des Autors bestätigt wurde und auch den heutigen Leser durch dieses biografische Wissen ein leicht schaler Nebengeschmack bei seiner Lektüre begleitet, ist der Roman dennoch ein interessantes Stück Zeitgeschichte. Als solches ist es durchaus all denen zur Lektüre zu empfehlen, die hundert Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs ihren Blick auf dessen Verheerungen im Leben der Menschen richten wollen.

Titelbild

Ernst Glaeser: Jahrgang 1902. Roman.
Herausgegeben von Christian Klein.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
389 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783835313361

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