Von Menschen und Hasen

Mit „Vaters Garten – Die Liebe meiner Eltern“ hinterlässt Peter Liechti ein Meisterwerk. Zum Tod des Schweizer Filmemachers

Von Alexander WeilRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Weil

„Wenn mein Blick manchmal hart war in meinen Filmen, so ist mir das unterlaufen.“ (Peter Liechti)

Der Schweizer Filmemacher Peter Liechti hat in den vergangenen drei Jahrzehnten 18 Filme gedreht und wurde dafür mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem 2009 mit dem Europäischen Filmpreis für „Das Summen der Insekten – Bericht einer Mumie“, nach einer Novelle von Shimada Masahiko, die von einem Selbstmord durch Verhungern erzählt und auf einer wahren Begebenheit beruht.

Einem größeren Publikum bekannt wurde er 1996 mit „Signers Koffer – Unterwegs mit Roman Signer“, mit und über den Schweizer Künstler Roman Signer, der bisweilen als „Maximalist der Bescheidenheit“ bezeichnet wird, weil er etwa, ohne die Miene zu verziehen, in Habachtstellung in einer Winterlandschaft neben einer kleinen Rakete stehend, diese zündet, dass sie ihm seine Wollmütze vom Kopf in den Himmel reißt, oder, in einem Zelt schlafend, sein unheimliches Schnarchen über Mikrofon und Lautsprecher in die menschenleere Vulkanlandschaft Islands posaunt.

1951 in St. Gallen geboren, hat Liechti ein Diplom für das Höhere Lehramt im Zeichnen an der Kunsthochschule Zürich erworben und Kunstgeschichte studiert. Liechtis langjährige Cutterin, Tania Stöcklin, schilderte anlässlich der Solothurner Filmtage, wie er nach Abschluss seines Studiums die Malerei aufgab: „Mehrmals hatte er das gleiche Bild gemalt, genau das gleiche, nur einfach jedes Mal kleiner. Als es überhaupt nicht mehr kleiner ging, war Schluss, es war sein letztes selber gemaltes Bild.“

Zuletzt arbeitete er an einem Projekt mit dem Arbeitstitel „Dedications“, „Ein“, wie er in einem kurzen Text schreibt „Vorbeiziehenlassen der wichtigsten künstlerischen wie persönlichen Eindrücke der vergangenen Jahre, flackernd, rauschhaft, prall und verblassend“.

Ende März erhielt er den Schweizer Filmpreis für sein letztes großes Meisterwerk „Vaters Garten“, ein Porträt seiner Eltern. Wie alle Filme Liechtis lässt sich auch dieser keinem bestimmten Genre zuordnen, und obwohl er den Preis in der Sparte Dokumentarfilm gewann, ist es kein Dokumentarfilm im landläufigen Sinn.

Liechti nannte seinen Film einen Essay, was die Sache insofern trifft, als er seinen Fokus nicht auf die Eltern beschränkt, sondern sich selbst in der Rolle des filmenden Sohnes miteinbezieht. Was „Vaters Garten“ auch als filmischen Essay einzigartig macht, ist die radikale Einfachheit seiner Mittel. Liechtis Selbstreflexivität erinnert daran, dass nur, was schon immer übersehen wurde, auf so überraschende Art einfach sein kann.

Der Film beginnt mit einer Sprecherstimme aus dem Off, zu einem Bild, das den Mond tagsüber am Himmel zeigt: „Vor einigen Jahren entdeckte ich meinen eigenen Vater auf der Straße. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Ich hatte meinen Vater noch nie zufällig getroffen, draußen im öffentlichen Raum. So verloren kam er mir vor. Der alte Mann dort, mein Vater – inmitten der fremden Menschen. Als er mich dann auch sah, zeigte er ein überraschtes Lächeln. ‚Was machst du denn hier?‘; und: ‚Wie geht’s dir denn so?‘ Wir waren beide verlegen. Warum konnten wir uns nicht richtig umarmen bei diesem Wiedersehen? Warum verhielten wir uns wie zwei Ertappte? Zwei Jahre nach dieser Begegnung habe ich mich entschlossen, einen Film über meine Eltern zu machen.“

Im weiteren Verlauf des Projektes führte Liechti sieben Gespräche mit der Mutter, acht mit dem Vater sowie ein gemeinsames und nahm sie auf Video auf. Er übertrug Passagen aus dem schweizerdeutschen O-Ton ins Schriftdeutsch und legte die Worte einem Handpuppen-Paar in den Mund, das die Eltern als Hasen darstellt.

Auf die Frage, warum er die Eltern ausgerechnet als Hasen zeige, sagte Liechti: „Die Schweizer sagen Schisshasen. Die Deutschen Angsthasen. Das ist dieses Duckmäusertum. Es hat etwas Schweizerisches. Aber auch Provinzielles. Das Scheue auch.“

Während der Dreharbeiten gab es kein Film-Team im Hause Liechti, nur den Sohn mit seiner Videokamera. Wie in den meisten seiner Filme war Liechti auch bei diesem sein eigener Produzent, Ton- und Kameramann. Er achtete darauf, dass in der Regel nur ein Elternteil zu Hause war, wenn er drehte: „Damit der andere nicht blockiert“.

Mit dem Film wurden Auszüge der Gespräche und Notizen als Buch veröffentlicht. In einer Notiz während der Dreharbeiten schreibt Liechti: „Draussen ist es still geworden, die Kinder sind verstummt. Wie ein Friedhof wirft der Botanische Garten seinen langen Schatten in den Abend, während hier drinnen Mutters Blumensträusschen morbide Festlichkeit verströmen. Ein bleiches Beige beherrscht das Ambiente im Zimmer – und plötzlich riecht es nach Tod. Vielleicht hat es hier schon immer nach Tod gerochen. Und vielleicht bin ich es, der diesen Leichengeruch mit herauf bringt. Vielleicht schleiche ich hier nur noch als Gespenst in der eigenen Kindheitsgruft herum und habe einfach aufgehört zu leben, um aus den halb verwesten Innereien der Vergangenheit noch einmal einen Blick in diese Stube zu werfen.“

In „Vaters Garten“ werden die alten Familien-Schlachten noch einmal geschlagen – als Reenactment. Dazu tritt Liechti bis ins Unpersönliche vor den Eltern zurück und lässt die Ansichten des seit über 60 Jahren verheirateten Paares derart aufeinandertreffen, dass der Film bisweilen zum Hardcore-Kammerspiel wird.

Gemeinsam mit Tania Stöcklin, die für ihre Arbeit den Schweizer Filmpreis in der Kategorie Schnitt gewann, montierte Liechti das Material zu einem Familien- und Generationenporträt, das einen vor Rührung erschaudern lässt.

In „Vaters Garten“ bleibt den Eltern zuletzt nicht nur die Erinnerung. Sie haben eine Gegenwart und Zukunft; sie repräsentieren eine Generation, die im Verschwinden begriffen ist, doch verschwinden sie nicht auf natürliche Weise, sondern performativ.

Auf der Berlinale erhielt der Film im Internationalen Forum den Zuschauerpreis. In einem Interview sagte der Regisseur: „Mir ist ziemlich schnell klar geworden, dass es das erste Mal in meinem Leben ist, wo ich meinen Eltern wirklich zuhöre und sehr, sehr lange hinschaue, ohne sofort zu protestieren oder zu rebellieren, sondern mir einfach die Zeit nehme, sie reden zu lassen. Das war sehr schwierig für mich. Aber ich wurde dadurch auch beschenkt mit einem vollkommen neuen Bild meiner Eltern.“

Liechti sagte von sich, er sei ein „Abschweifer“. Er ist aber auch ein ‚Stehen-Bleiber‘, der, wenn er zu schmerzlichen Ansichten auf sein Land und seine Bewohner gelangt, so lange innehält, bis es einen anrührt und man den Schmerz zu genießen beginnt, oder ihn einfach nur noch aushalten will, um zu erleben, wie es sich anfühlt, wenn er vergeht.

In „Vaters Garten“ gibt es Kasperltheater und Sprachverschiebungen. Es gibt einen Soundtrack, den man sich veröffentlicht wünscht; mit Hammond-Orgelklängen und zeitgenössischer Schweizer Musik. Derart inspiriert beginnt der Film dann auch noch in Zungen zu reden – in bester schweizerisch-pietistischer Manier – und wird größer als das Leben. Nicht monumental, aber ein Monument. Am 4. April ist der große Filmkünstler Peter Liechti gestorben.

„Vaters Garten – Die Liebe meiner Eltern“ (Schweiz, 2013)
Regie: Peter Liechti
Darsteller: Max Liechti, Hedy Liechti
Laufzeit: 98 Min.
Verleih: Salzgeber & Company Medien