Eine „verbrecherische Organisation“?

Eine von den Potsdamer Historikern Martin Sabrow und Christian Mentel herausgegebene Anthologie versammelt wichtige Beiträge zur Debatte um die Geschichte des Auswärtigen Amtes in der Nazizeit

Von Martin MunkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Munke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Oktober 2010 erschein eine dickleibige historische Studie, die es in kurzer Zeit mit über 80.000 verkauften Exemplaren zum Bestseller bringen sollte: „Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik“. Vorausgegangen war eine Auseinandersetzung um die interne Nachrufpraxis im Auswärtigen Amt, in welcher der damalige Minister Joschka Fischer Mitte 2005 schließlich eine Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Hauses ins Leben rief. Die Ergebnisse schienen eindeutig: Das Amt war aktiv an Verbrechen während der Nazizeit beteiligt, nach 1945 sei diese Vergangenheit relativiert und umgedeutet worden.

Studien zu diesem Themenkomplex waren lange Zeit rar. Aus dem deutschen Sprachraum hervorzuheben sind dabei die Untersuchungen des Osnabrücker Historikers Hans-Jürgen Döscher – „Das Auswärtige Amt im Dritten Reich“ von 1987 und der Nachfolgeband „Verschworene Gesellschaft“ von 1995 –, die sich mit der Geschichte des Amtes in der Regierungszeit von Konrad Adenauer beschäftigen. Eine pointierte Zusammenfassung seiner Thesen lieferte er 2005 unter dem Titel „Seilschaften. Die verdrängte Vergangenheit des Auswärtigen Amts“. Die erste intensivere Auseinandersetzung aus wissenschaftlicher Perspektive entstammte freilich der anglo-amerikanischen Forschungstradition. Schon 1978 hatte der US-amerikanische Historiker Christopher Browning seine Doktorarbeit „The final solution and the German Foreign Office“ vorgelegt, die sich mit der Verstrickung des Referats D III der Abteilung Deutschland in den Holocaust befasste. Erst mehr als 30 Jahre später, nämlich im Kontext der Kommissionsarbeiten, sollte 2010 eine deutsche Übersetzung erscheinen. Während eines von Brownings späteren Büchern – „Ordinary Men“ („Ganz normale Männer“) über das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen – starke Impulse auf die deutsche Forschungslandschaft und auch die deutsche Öffentlichkeit ausübte, wurde sein Erstling weit geringer rezipiert. Bedarf für eine moderne historiografische Darstellung der Vergangenheit des Auswärtigen Amtes war also in jedem Fall vorhanden.

Neben den vier Herausgebern und Hauptautoren Eckart Conze (Marburg), Norbert Frei (Jena), Peter Hayes (Evanston/USA) und Moshe Zimmermann (Jerusalem) waren zwölf Mitautoren und weitere Mitarbeiter am Recherche- und Schreibprozess beteiligt. Gesundheitsbedingt hatten die eigentlich vorgesehenen Henry A. Turner (New Haven/USA) und Klaus Hildebrand (Bonn) aus dem Herausgeberkreis ausscheiden müssen, ersterer wurde durch Hayes ersetzt. Das Ergebnis der Kommissionsarbeit fand dann viel Zustimmung, zog jedoch auch scharfe Kritik auf sich – etwa durch den Ressortleiter „Politisches Buch“ der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Rainer Blasius, der in den 1990er-Jahren Leiter der Außenstelle des Münchener Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) im Auswärtigen Amt und dort wissenschaftlich für die Edition der „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“ verantwortlich gewesen ist. Besonders die in einigen Interviews durch Conze geäußerte Einschätzung des Amtes als in Gänze „verbrecherischer Organisation“ erntete in ihrer Verallgemeinerung starken Widerspruch, wie überhaupt der Abschnitt zu Nazizeit und Holocaust für den größeren Aufruhr sorgte. Debattiert wurden einerseits Fachprobleme der Geschichtswissenschaft, etwa Fragen von Methodik und Quelleninterpretation. Anderseits hatten die Auseinandersetzungen auch einen geschichtspolitischen Hintergrund, der sich auf den Umgang mit der Nazivergangenheit in der alten Bundesrepublik und im vereinigten Deutschland bezog.

Der Historiker Christian Mentel vom Zentrum für Zeitgeschichtsforschung (ZZF) in Potsdam hatte die Debatte von Beginn an im Internetangebot „Zeitgeschichte online“ dokumentiert, begleitet und kommentiert. Gemeinsam mit Martin Sabrow, dem Direktor des ZZF, legt er nun eine Auswahl wichtiger Diskussionsbeiträge, Interviews und Leserbriefe aus Tageszeitungen, Zeitschriften und Fachpublikationen vor.

Die Rezeption der Kommissionsstudie wird dabei in mehrere Phasen eingeteilt. Die „erste und intensivste Phase“, mithin der „Kern der Debatte“ wird auf den Zeitraum von Ende Oktober 2010 bis Mitte Februar 2011 taxiert, in dem in den überregionalen Publikumsmedien zahlreiche Besprechungen, Kommentare und Artikel erschienen und große Aufmerksamkeit genossen. Fünf Themenkomplexe, die mit Kritik verbunden waren, sind dabei herauszuheben: die Schwerpunktsetzung auf die Beteiligung des Amtes an der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik und die damit einhergehende Vernachlässigung der klassischen diplomatischen Tätigkeit, der Vorwurf der fehlerhaften Interpretation von Quellen, die wiederum zu unzulässigen Verallgemeinerungen führte, die Annahme einer politischen Einseitigkeit der Kommission als „Ausführungsorgan“ von „Alt-68ern“ wie Minister Fischer, forschungspraktische Probleme wie die Frage der Rolle der Kommissionsmitglieder als Autoren oder als Herausgeber und schließlich die Art der Präsentation der Ergebnisse im Spannungsfeld von „sensationsheischender“ Ankündigung und bereits bekannten Fakten.

Den zweiten Abschnitt der Debatte bildete die Verlagerung in die historischen Fachorgane, die ab Ende Januar/Mitte Februar 2011 ausführliche Besprechungen veröffentlichten. Hervorzuheben ist dabei die Rezension des Münchener Historikers Johannes Hürter vom IfZ, die in der April-Ausgabe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte erschien und einen sehr kritischen Tenor aufwies. Die Themen blieben weitgehend gleich. Entsprechende Äußerungen auch aus anderen Organen wurden weiterhin in der Tages- und Wochenpresse aufgegriffen, allerdings in einer geringeren Frequenz als in der ersten Phase und nur bis Sommer 2011. Ab Oktober 2011 finden sich in einer dritten Phase nur noch gelegentliche Äußerungen vor allem der Hauptkontrahenten, die sich bis Mitte 2012 nun hauptsächlich auf die Forschungspraxis und die Arbeitsbedingungen der Kommission im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes konzentrierten.

Sabrow und Mentel ordnen die Debatte um „Das Amt und die Vergangenheit“ in ähnliche öffentliche Auseinandersetzungen ein, etwa den „Historikerstreit“ der 1980er- oder die Goldhagen-Kontroverse der 1990er-Jahre. Sie erscheint vor diesem Hintergrund als die Frucht einer periodisch wiederkehrenden Selbstreflexion der deutschen Gesellschaft hinsichtlich des Stands der „Aufarbeitung“ der Nazizeit und stehe für eine Art der „Vergangenheitsvergewisserung, die sich von dem auf Selbstversöhnung zielenden Entlastungsdiskurs der frühen Nachkriegszeit ebenso abhebt wie von der anschließenden Phase einer lagerpolitisch aufgeladenen ‚Vergangenheitsbewältigung‘“ – und ist damit, ebenso wie durch die hauptsächlich daran Beteiligten, in der Tat eine „deutsche Debatte“, wie der Untertitel der Anthologie suggeriert. „Vergangenheit“ soll demnach nicht „abgeschlossen“, sondern kontinuierlich erinnert und sich mit ihr auseinandergesetzt werden. Deutlich werden dabei auch unterschiedliche Kenntnisstände in Fachwelt und Öffentlichkeit. Während die persönliche Verstrickung von Angehörigen des Amtes in Verbrechen unter Fachwissenschaftlern schon länger diskutiert wurde, waren diese Fälle darüber hinaus weniger bekannt. Hier wirkte vielmehr die zwischenzeitlich korrigierte (Über-)Betonung einer Widerstandstradition durch das Außenamt, und hier liegt – neben der entsprechenden Bewerbung durch Verlag und Kommission – auch einer der Gründe für das Hervorheben der vorgeblich „skandalhaften“ Ergebnisse der Studie in den ersten Wochen nach ihrem Erscheinen vor.

Wie ist nun der Stand zu Beginn des Jahres 2014? Wenig Neues bieten die knappen Resümees einiger der an den Debatten Beteiligten – der Hauptautoren der Studie, von Blasius und von Döscher –, welche die Anthologie abschließen. Da wird die eigene Position auf eineinhalb Seiten noch einmal betont und gerechtfertigt, wird Differenzierungen wenig Raum gegeben. Das beginnt bei der von den Kommissionsmitgliedern behaupteten „durchgehend positiven Rezeption im Ausland“ – man beachte demgegenüber nur die ausführliche Rezension des britischen Historikers Richard J. Evans, der die Studie als eine in Teilen „zutiefst fehlerhafte“ („deeply flawed“) Arbeit bezeichnete –, reicht über Blasius’ Pauschalwertung der „Gegenseite“ als „Opportunisten“ und endet bei Döschers Meinung, ablehnende Meinungsäußerungen seien „vornehmlich aus dem Kreis amtsnaher Pensionäre“ zu vernehmen gewesen, was die starke fachwissenschaftliche Kritik ignoriert. Insofern ist die Debatte auch hier eine „deutsche Debatte“, in der die einzelnen Seiten oft genug wenig Bereitschaft zeigen, eigene Positionen zu hinterfragen; von Ton und Stil einmal ganz abgesehen. Umso bedenkenswerter erscheint vor diesem Hintergrund ein Artikel des Schriftstellers und Juristen Bernhard Schlink, der in der Juni-Ausgabe 2011 des „Merkur“ vor einer „Kultur des Denunziatorischen“ warnte, welche die Zeitgeschichtsschreibung leider allzu häufig prägt.

Richtig ist allerdings – und das wird auch in den drei Resümees betont –, dass die Kommissionsstudie der Forschung zur Geschichte der einzelnen Ministerien und Ressorts wichtige Impulse verliehen hat. Neben der individuellen wissenschaftlichen Tätigkeit im Rahmen von Qualifikationsarbeiten kommt dabei auch das Modell der Kommission wieder zum Einsatz, etwa bei der Aufarbeitung der Nazivergangenheit des Justizministeriums. Und scheinbar hat man hier einiges gelernt – bereits knapp eineinhalb Jahre nach Einsetzung der Kommission erschien Mitte 2013 ein erster Sammelband („Die Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit – eine Bestandsaufnahme“), der die bisherige Forschung zum Thema resümiert und Desiderate benennt. Im Mai 2013 fand zudem eine Arbeitstagung statt, die Vertreter mehrerer staatlich eingesetzter Forschungskommissionen zusammenführte, wobei Chancen und Grenzen derartiger Ansätze diskutiert wurden. Die Wissenschaftslandschaft und die interessierte Öffentlichkeit sind so schon viel eher mit in eine Diskussion der Ergebnisse eingebunden – vielleicht nicht die schlechteste Methode.

Titelbild

Martin Sabrow / Christian Mentel (Hg.): Das Auswärtige Amt und seine umstrittene Vergangenheit. Eine deutsche Debatte.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2014.
406 Seiten, 12,99 EUR.
ISBN-13: 9783596196029

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