Sehen und Staunen: Ein Album über Alben

Anke Kramer und Annegret Pelz haben eine beeindruckende Sammlung von literatur- und kulturwissenschaftlichen Fundstücken zum Medium des Albums herausgegeben

Von Simone Sauer-KretschmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Sauer-Kretschmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der von Anke Kramer und Annegret Pelz veröffentlichte Sammelband „Album. Organisationsform narrativer Kohärenz“ ist selbst ein vielseitiges Album: Denn die interdisziplinär ausgerichtete Publikation lädt zum Blättern, Fragen, Neu- und Wiederentdecken ein, um ein aktuelles Feld der literatur-, medien- und kulturwissenschaftlichen Forschung zur Materialität von Texten und Bildern multiperspektivisch zu erweitern. Die vorgestellten Beiträge unterscheiden sich dabei nicht nur durch ihre (selbstverständlich) vollkommen ungleichen Gegenstände, sondern besonders auch aufgrund der heterogenen Schwerpunktsetzungen der Darstellung durch die einzelnen Verfasserinnen und Verfasser. Denn Kramer und Pelz arrangieren nicht nur die Beiträge vornehmlich im universitären Forschungsbetrieb aktiver Autorinnen und Autoren, sondern auch von primär im Archiv und in der Sammlungsarbeit tätigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.

In ihrer Einleitung beschäftigen sich die Herausgeberinnen zunächst mit verschiedenen „albenhafte[n] Verfahren in Wissenschaft und Kunst“, wobei die ‚Organisationsform‘ des – möglicherweise noch lose – aus Text und Bild zusammengesetzten Albums als Stadium des Buches ‚avant la lettre‘ eingeführt wird. Kramer und Pelz beziehen sich mit ihren Vorüberlegungen dabei zunächst wiederholt auf Roland Barthes’ Vorlesungen „Die Vorbereitung des Romans“, um anschließend auf die antike Albumpraxis zu verweisen, aus der sich die „Transformation eines alten Mediums“ bis zur Gegenwart herleiten lässt. Dabei spielte schon immer der Wunsch nach einer bestimmten Ordnung (oder einem bestimmten System von Ordnungsverfahren) eine grundlegende Rolle, wenn ein Album angelegt wurde. Ein Album ist – mit Bernd Stiegler gesprochen – also ein „Format zur Organisation von Wissen“, ein Netzwerkmedium noch dazu, das eine Vielzahl von höchst aktuellen Themen vereint: neben Materialität und Dingkultur zählen dazu beispielsweise Themenfelder zu Migration und Gedächtnis, Archiv und Museumspraktiken.

Nach diesem einführenden Überblick folgen zunächst zwei kurze Essays der Künstlerin Jane Hammond, die ihre Arbeiten auch für die – überaus gelungene – Gestaltung der Titel- und der Umschlaginnenseite zur Verfügung gestellt hat sowie des Fotografen Alexander von Reiswitz. Eingeteilt in vier thematische Sektionen, schließen sich stolze zweiundzwanzig Beiträge an, die teilweise sehr kurz gehalten sind, so dass das jeweilige Forschungsthema nur angeschnitten wird. Das ist schade, denn die allermeisten der hier versammelten Aufsätze versprechen eine gelungene Perspektivierung des Albums in Hinblick auf seine Tradition, Erscheinungsform, Gestalt und Gestaltung sowie eine diskursive Annäherung an den gewählten Oberbegriff des Albums als narrativer Form, der hier noch bewusst offen angelegt worden ist, um zu erproben, welche möglichen Zugangswege für die weitere Auseinandersetzung mit dem Begriff denkbar erscheinen.

Schon der erste Beitrag von Vivian Liska in der Abteilung „Transformationen des Albums“ bestätigt den eben genannten Eindruck, wenn die Autorin auf knappen viereinhalb Seiten sowohl über die Idee des Albums und – anhand einer Szene aus Franz Kafkas Romanfragment „Der Prozess“ – auch über eine Poetik der Potentialität schreibt. Liska folgt der an Josef K. gerichteten Aufforderung durch den Geistlichen im Dom, das Album aus der Hand zu legen, mit Überlegungen zu Georg Christoph Lichtenberg und Giorgio Agamben, was äußerst spannend und verheißungsvoll beginnt, um dann so abrupt zu enden als handele es sich hier um eine direkte Umsetzung der genannten Forderung des Kirchenmannes. Im Anschluss erörtert die Herausgeberin Annegret Pelz den Übergang vom Bibliotheks- zum Albenphänomen. Dem stehen Georges Didi-Hubermans Konzeptionen von Album und Atlas unter Bezugnahme auf André Malraux versus Aby Warburg gegenüber. Der darauffolgende Beitrag von Heike Gfrereis beschäftigt sich mit dem Albeninventar des Deutschen Literaturarchivs Marbach und deutet, zunächst im Sinne einer Materialschau, die produktionsästhetische Ebene des Albums als mögliche Vorform des schriftstellerischen Werkes, beispielsweise bei Alfred Döblin oder Hermann Hesse, an. Der Albenbegriff, den Gfrereis dabei zugrunde legt, ist sehr weit gefasst, denn auch Kalender, Mappen, Ordner und Kisten voller gesammelter Versatzstücke werden dem Album als Unterformen zugerechnet, worüber sich debattieren ließe. Die Autorin spricht diesbezüglich von verschiedenen ‚Album-Gattungen‘, womit ein wichtiger Ansatz markiert ist, der zukünftig weiter verfolgt und ausdifferenziert werden sollte. Den Kern der vorgelegten Analyse stellt jedoch eine Auseinandersetzung mit dem ‚Bilderschatz‘ des populären ‚Geistersehers‘ Justinius Kerner dar, dessen Klecksografie-Collagen sich in einem Bilderalbum arrangiert finden.

Ute Holls Aufsatz bespricht Henri-François Imberts Dokumentarfilm „No pasarán, album souvenir“ (2003), in dem die Suche nach Materialanordnungen in Form einer jahrelangen Recherche nach den Füllelementen für die Leerstellen einer Postkartenserie im Vordergrund steht. Die topologisch ausgerichtete Montage richtet sich auf Orte am Rande der Pyrenäen, wo in den dreißiger Jahren ein ‚camp de concentration‘ stand und später ein ‚camping‘ entsteht: „Ausgehend von den Ansichten der Karten unternimmt Imbert eine Reise durch den Süden Frankreichs, um anhand von markanten Landschaften, Gebäuden und immer wieder durch den möglichen Blick auf das Meer Standorte der Lager zu identifizieren.“

Imberts Film arbeitet, so Holl, das auf den ersten Blick Unbedeutende der Bilderserie heraus; die Geschichte – im zweifachen Wortsinne – bleibt angelegt auf ein ‚konjekturales Verfahren‘. Neben Holls bemerkenswerten Überlegungen zu Imberts dokumentarischem Projekt versammelt die Autorin eine ganze Reihe von unbedingt lesenswerten Beobachtungen, die zwischen Albenpraktiken und der ‚Materialität des Medialen‘ im Film als Organisationsform changieren. Dabei operiert Imberts Dokumentation selbst im Geiste einer postalischen Sendung, während die beiden erwähnten Darstellungsmodi an einem Entwurf des ‚migrierenden Gedächtnisses’ arbeiten. Die erste Sektion des Bandes beschließt Matthias Bickenbach mit einem Aufsatz über „Die Enden der Alben“, wofür ihm primär Ordnungs- und Unordnungskonzepte der Montagebücher Rolf Dieter Brinkmanns als Beispiel dienen.

Die zweite thematische Sektion „Migrierendes Gedächtnis – portatives Museum – Gegenarchiv“ konzentriert sich noch stärker auf Aspekte des Sammelns und Archivierens, des Ausstellens und Speicherns. Mit Marianne Hirschs Beitrag „Der archivale Impuls der Nacherinnerung“ wird gleich zu Beginn des Panels ein Glanzlicht gesetzt, wenn Hirsch über die Grenzen des Albums und die damit verbundenen Erzählungen von, durch und mit Fotos nachdenkt. Gegenstand des gewählten Vergleichs sind zwei Projekte, die sich inhaltlich und formal stark unterscheiden, sich jedoch beide mit dem Gedenken an die Opfer von Völkermorden beschäftigen: „And I Still See Their Faces: Images of Polish Jews“ von Golda Tencer und „Kurdistan: In the Shadow of History“ von Susan Meiselas. Hirsch berücksichtigt dabei auch die Eigenschaften des Medienwechsels, der eintritt, sobald Ausstellungen und Alben digitalisiert werden, und stellt Beobachtungen zur Darstellung musealer Gegenstände im Internet an.

Ulrike Vedders im Anschluss folgerichtig platziertes Aufsatzthema ist „Todesnähe und Literatur“, wobei der Obertitel von „Alben, Sammelsurien, Inventare, Museen“ kündet und das Album sodann mit ihm verwandten Dinglichkeiten parallelisiert wird. Helmut Lethens Beitrag konzentriert sich auf eine Kategorie von Fotos und deren Rahmungen, die – im ‚family frame‘ nach Marianne Hirsch – eine ganz eigene Verbindung von Familienalbum und Zeugnissen des Verbrechens eingehen; handelt es sich doch um das private Album eines Propagandakompanie-Fotografen mit dem Rang eines Wehrmachtoffiziers, das im Mittelpunkt der Analyse steht. Lethen untersucht dabei sowohl den Bildinhalt jener Dokumente des Schreckens als auch die spätere Ausstellung der Farbdias und den ‚Schatten des Fotografen‘: „Der Schatten des Fotografen gehört einer anderen Ordnung als der der abgelichteten Dinge an. Er gehört nicht zu den Relikten der Toten. […] Er kündet im Grunde nur vom Entzug des Lichts.“

Birgit R. Erdle folgt anschließend mit ihrer – wunderbar bebilderten – Besprechung des Albums „Photographs“ den Spuren Maidon und Max Horkheimers, wonach ein großer thematischer Zeitsprung erfolgt, wenn Franz M. Eybl sich in seiner Ausarbeitung mit „Alben der Analphabeten. Religiöse Bücher als Speicher“ beschäftigt. Einschreibungen und Einlagen, die aus Büchern Alben machen, beschäftigen den Verfasser, auf dessen Diskussion der Funktionen von Gebetbuchalben Monika Seidls kurzer Text über „Das Scrapbook“ folgt, dessen historische Entwicklung Seidl nachvollzieht. So gegenübergestellt ergeben sich aus der auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinenden Anordnung der Beiträge inhaltliche Parallelen zwischen vollkommen unterschiedlichen historischen Epochen und Kontexten, die den Leser des vorliegenden Bandes zur Herstellung neuer Sinnzusammenhänge zwischen den vorgestellten Forschungswegen einladen. Doch insbesondere in den ersten beiden Teilen des Bandes entstehen aus der jeweils neu rekapitulierten theoretischen Fundierung der Beiträge auch gewisse Redundanzen, die – in Hinblick auf die Gesamtkomposition des Bandes – durch deutlich stärker hervorgehobene Verweise der Aufsätze untereinander vermeidbar gewesen wären. (So ist beispielsweise immer wieder von der das Album konstituierenden weißen Seite oder dem weißen Blatt zu lesen.)

Im dritten Teil des Buches „Album Amicorum – Gruppenkonstitution – Netzwerke“ stehen mittelalterliche und frühneuzeitliche Quellen im Fokus, was unverhofft geschieht, denn es erscheint wenig offensichtlich, warum dieser historisch weit zurückgreifende Teil der Untersuchung erst an dieser Stelle des Buches platziert wurde. Werner Wilhelm Schnabel wählt „Das Album Amicorum“ zur Vorstellung aus, Kurt Mühlberger „Das Album Universitatis“. Margarete Zimmermanns Aufsatz beschäftigt sich mit „Salonalben“ und enthält zudem einen Exkurs zu „La Guirlande de Julie“ von Stephanie Bung. Darauf folgend stellt Ute Pott das Tapeten-Album im Gleimhaus in Halberstedt vor, wonach Eva Raffel ein bisher nicht identifiziertes Stammbuch aus der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zu Weimar präsentiert.

Der vierte und letzte Abschnitt zu „Lesarten. Alben und albenhafte[n] Verfahren in Wissenschaft und Kunst“ verzeichnet auf knapp über dreißig Seiten gleich fünf anschauliche Vorschläge zu verschiedenen Kompendien, die – in ihren Ansätzen dem zuvor erwähnten Beitrag von Heike Gfrereis verwandt – mal überaus evident, ein andermal noch vorsichtig tastend nach der Festlegung des Materials als Album, dem Zusammenspiel von Bild, Text, Werk und Leben ihrer Schöpfer fragen. Gisela Steinlechner bespricht Hannah Höchs „Album“, Leo A. Lensing belebt seine Forschung zu den Ansichtskartenalben Peter Altenbergs anhand von „Semmering 1912“, während Ute Jung-Kaiser sich mit den Alben und dem Albumblatt des Komponisten Robert Schumann auseinandersetzt. Daraufhin komplettieren Peter Keichers Beitrag zu „Wittgensteins Fotoalbum“ und Anja Tippners Essay über das Verhältnis von Album und Bildbiografie bei Vladimir Nabokov die Werkschau.

Der gewählte Abschluss des Bandes lädt noch einmal besonders zum Blättern und Stöbern ein und regt Folgeideen an, wodurch es den Autorinnen und Autoren sowie den Herausgeberinnen gelingt, mit dem, was sie zeigen, ein großes Potenzial und Interesse an dem freizulegen, was noch nicht gezeigt, beschrieben, überinterpretiert worden ist. Am Ende dieses gelungenen Bandes steht die an der weiteren Forschung interessierte wissenschaftliche Neugier, die sich besonders in zwei Richtungen entfaltet: Welche weiteren, in Archiven vorhandenen Alben-Schätze werden die nächsten Jahre hervorbringen, und wie werden die zu erwartenden interdisziplinären Forschungsbeiträge daran arbeiten, die Engführung des Album-Begriffes voranzutreiben? Denn mit der Vielfalt der Artefakte steht auch die Gefahr im Raum, den Album-Begriff durch zu große Offenheit einem inflationären Zuschreiben aller möglichen Arrangements aus Schrift, Bild und Papier anheimfallen zu lassen. Aber soweit ist es noch nicht und bis dahin wird „Album“ von Kramer und Pelz ein ebenso reicher wie anregender Fundus und Ausgangspunkt bleiben.

Titelbild

Anke Kramer / Annegret Pelz (Hg.): Album. Organisationsform narrativer Kohärenz.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
350 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783835311749

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