„Es ist etwas Göttliches im Arztsein.“

Der Baden-Badener Arzt Georg Groddeck entfaltet in seinen „Lebenserinnerungen“ seine außergewöhnliche Medizinphilosophie

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wenn es Herbst ist, soll man die Früchte sammeln, das gilt vom Lebensherbst so gut wie vom Herbst des Jahres.“ Für den Pionier der psychoanalytischen Psychosomatik, Arzt und Schriftsteller Georg Groddeck, von dem dieses Zitat stammt, ist der Herbst eine Zeit der Reife. Die Kraft der poetischen Sprache dieses Autors, dessen Feder auch mehrere literarische Werke entsprossen sind – zum Beispiel die Novelle „Der Pfarrer von Langewiesche“ sowie die Romane „Ein Kind der Erde“ und „Der Seelensucher“ – dringt auch bei der ausdrucks- und stimmungsvollen Beschreibung des Herbstes im heimatlichen Bad Kösen an der Saale durch: „Im Herbst bin ich geboren. Winteräpfel und Birnen lagen säuberlich nebeneinandergepackt, so dass sie sich nicht berührten, auf Stroh oben unter dem Dach und harrten der Reife. Weintrauben mit wohlschmeckender Süße gab es in allen Häusern, der Kalkboden der steilen Hänge der Saale brachte sie in Hülle u. Fülle den Bewohnern des kleinen Soolbades Kösen.“ Im Alter von fast sechzig Jahren blickt Groddeck nun, dem sterile „Centralheizungen“ ebenso wie alles Künstliche ein Gräuel sind, von seiner mit einem „behaglichen, gut wärmenden grünen Kachelofen“ ausgestatteten Baden-Badener Hütte aus auf sein Leben zurück und verfasst seine Lebenserinnerungen.

Psychoanalytiker werden in Groddecks „Autobiographischen Schriften“, die von Wolfgang Martynkewicz im Auftrag der Georg Groddeck-Gesellschaft herausgegeben und im Stroemfeld Verlag erschienen sind, wenig psychoanalytische Raffinesse finden. Überhaupt beruft sich Groddeck nach mehreren Jahren Zugehörigkeit zu Sigmund Freuds „wildem Heer“ nur gelegentlich auf Freud und die Psychoanalyse. Dennoch bleibt er ein Leben lang von der „zwingenden Kraft unbewusster Strömungen“ überzeugt und der Methode der freien Assoziation, der „Grundlage aller Psychoanalyse“, treu. Und so sind Groddecks Lebenserinnerungen keine fertigen Lebensbilder, eher „eine wirre Menge von Gegenständen“, bloße „Gedankenspiele“. Groddecks einziges Erzählprinzip ist: „So wie es mir in den Kopf kommt, will ich erzählen, frei aneinanderreihen, was mir einfällt unbekümmert um die Zusammenhänge von Zeit und Ort, unbekümmert um das, was entsteht, unbekümmert um die, denen ich erzähle.“ Wo bleibt aber bei einem so zwanglosen Erzählen die oben angesprochene Reife? Zumal Groddeck auch noch zugibt, diese Erzählmethode von seinen Patienten gelernt zu haben. Und worin liegt der Wert seiner „farbigen Bruchstücke“?

Groddeck beginnt seine Lebensbilanz mit der Versicherung: „Mein Leben ist ein Durchschnittsleben, nichts Aussergewöhnliches ist darin. Aber gerade weil es ein Leben Jedermanns ist, kann ein Jeder sich selbst darin finden.“ Und doch findet man in diesem Buch vieles über das Leben des Autors, das alles andere als gewöhnlich ist. Groddeck entstammt väterlicherseits einer alten Danziger Patrizierfamilie. Mütterlicherseits ist er der Enkel des großen Literaturhistorikers, des damals „beste[n] Kenner[s] der deutschen Literatur“ Karl August Koberstein. Groddecks assoziativ vorgetragene Kindheits- und Jugendreminiszenzen sind auch ein spannendes Stück deutscher Bildungs- und Kulturgeschichte: Wie Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Nietzsche und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff und andere mehr hatte er die berühmte Schulpforte besucht – jene Schule, an der auch sein Großvater Koberstein fast ein halbes Jahrhundert unterrichtete. Man lernt bei der Lektüre der Textstellen über diese Schule in den „Lebenserinnerungen“ jedoch nicht nur den Ironiker Groddeck kennen, der sich statt mit den Bildungsmodalitäten in der Pforte – wie vom Leser erwartet – lieber mit dem „Zös“, dem dortigen Abort, und dessen „einzelnen Abteilungen, deren Sitzgelegenheiten den Dreck in die kleine Saale fallen ließen“, beschäftigt. Man erkennt in diesen Erinnerungen auch den Querdenker und Medizinkritiker Groddeck, der zeitlebens unkonventionelle, ketzerische Vorstellungen verbreitete und in Opposition zur damals gefeierten naturwissenschaftlichen Medizin stand. So folgt in seinen Ausführungen auf die Feststellung, in der Schulpforte habe es keine „Gelegenheit zum Baden“ gegeben und auch „mit Waschen [sei] kein Luxus getrieben“ worden, die der zeittypischen Obsession mit Hygiene und Gesundheit widersprechende Schlussfolgerung: „Das Verwunderliche von all dem war, dass so gut wie nie Krankheiten vorkamen, natürlich mit Ausnahme derer, die wir vortäuschten, wenn wir uns der rechtzeitigen Ablieferung einer schriftlichen Arbeit entziehen wollten. Von Gesundheit wurde überhaupt nicht gesprochen und auch nicht daran gedacht. Ich glaube, es könnte nicht Schaden [sic], wenn das viele Reden über Bekömmliches und Unbekömmliches wieder aus der Mode käme.“

Seine Medizinphilosophie, die das Fundament seiner Lebensphilosophie ist, verdankt Groddeck Ernst Schweninger (1850-1924), Otto von Bismarcks Leibarzt. Der Freundschaft mit Schweninger sowie Schweningers „Genialität“ wird in Groddecks Lebenserinnerungen viel Platz eingeräumt. Groddeck sieht in Schweninger, dessen Assistent er in Berlin gewesen war, bevor er 1900 sein eigenes Sanatorium in Baden-Baden eröffnete, einen „Arzt von Gottes Gnaden“. So hatte Schweninger „durch ein unermüdliches Ueberwachen der Lebensgewohnheiten“ den Reichskanzler Bismarck „von einem schweren lebensgefährlichen Leiden befreit, nachdem sich vorher hundert Aerzte vergeblich abgeplagt hatten“. Wie Schweninger hat Groddeck schwerkranke, von allen Ärzten abgeschriebene Patienten therapiert. Und wie Schweninger hat er versucht, mit Massage und Diät eine Besserung des Patienten zu erzielen.

Aber Groddecks Welt ist nicht mehr die Schweningers. Das großartige Wesen und die Handlungsweise jenes Arztes, dem es gelungen war, Bismarcks Willen zu bändigen und den großen Herrscher zum Gehorsam zu zwingen, sind für Groddeck zwar immer noch bewundernswert, aber trotzdem nicht mehr tragbar und praktizierbar. Und der typisch Groddeck’sche Hochmut kommt zwar ebenfalls immer wieder zum Vorschein, wird aber in den Lebenserinnerungen immer öfter hinterfragt: „Vermutlich wird mein Grossvater nicht viel anders gewesen sein als sein Sohn und seine Enkelkinder, das heisst er wird als Fundament seines Wesens den Hochmut besessen haben, ein Groddeck zu sein. Was eigentlich den Wert dieses Namens ausmacht, habe ich nie begriffen, obwohl ich noch jetzt zu Zeiten davon überzeugt bin, dass es gute Menschen, schlechte Menschen und Groddecks giebt. Dabei hat kein Einziger aus der Familie je etwas geleistet, was auch nur mäßig über den Durchschnitt alltäglicher Mittelmässigkeit hinausgegangen wäre. Das einzig auszeichnende [sic] ist tatsächlich der Hochmut, die billige Selbstgenügsamkeit“.

Groddeck bricht mit dem Willenskonzept, das Schweningers Weltanschauung und Therapieprogramm zugrunde lag, entfernt sich in seinem eigenen Therapiekonzept von den schweningerschen Diätvorgaben und Vorschriften, modifiziert auch erheblich Schweningers Postulat, „der Arzt habe nicht Krankheiten zu heilen, sondern den Kranken, dem er gegenübersteht“. Groddecks eigenes Medizinverständnis beruht auf der „Sprache des Es“, der „geheimnisvollen Kraft“, von der wir „gelebt“ werden. Dies ist oft die Sprache des Unglücks, aber auch des weisen Umgangs mit ihm: „[…] das Leben, besonders mein Verkehr mit Kranken hat mich gelehrt, dass es wahr ist, dass wirklich der Zorn Gottes, das Unglück dem Menschen zum Besten dient. Man muß aber wohl viel Unglück gesehen und erlebt haben, um solche Einsicht zu gewinnen.“

Groddecks Werk ist ein Plädoyer dafür, „dass Krankheit an sich kein Uebel ist, sondern stets ein sinnvoller Vorgang, der nicht selten aus sich heraus Kräfte entwickelt, die nur im Kranksein lebendig wirken“. Zu Nietzsches amor fati, dem „Ja“ zum Schicksal, und manch anderem philosophischen Rezept wie „Nichts Menschliches sollte uns fremd sein“ gesellt sich auch die groddecksche Überzeugung, dass „des Menschen Natur stark und zäh für Genesung kämpft, dass Fehler begehen nicht das Schlimmste ist, weil Kräfte da sind, die Ausgleich bringen, wenn man sie walten lässt und sie nicht hindert“. Der Arzt selbst ist nicht mehr zentral, er kann lediglich „aufmerksam von Tag zu Tag […] verfolgen, was in dem Kranken vor sich geht“ und wird vom Kranken sogar „als Werkzeug zur Genesung benutzt“.

Der Mensch ist für Groddeck „keine Retorte für chemische Experimente“, sondern er bestimmt „selbstherrlich sein Gesundsein oder Kranksein“. Krankheit ist „immer das Versteck des Wachstums […], mag sie nun körperlich oder seelisch sein; es gibt davon keine Ausnahmen“. Noch optimistischer, fast euphorisch, klingen folgende Äußerungen des Autors, die dem vorliegenden Band seinen Titel geliefert haben: „Persönlich habe ich nie anders empfunden, als das ich der Staat bin, ich ganz allein. Ja ich gehe noch viel weiter darin und behaupte, dass ich die Welt bin, behaupte es nicht nur, sondern suche danach zu leben und andre Menschen zu lehren, sich als Welt zu empfinden. Nur die Welt existiert, die der Mensch sich selbst schafft, eine objektive Welt, eine Welt an sich giebt es nicht. Wenn ich nicht da bin, ist keine Welt mehr da.“ Was sich hier beinahe als Größenwahnsinn ausnehmen mag und auch hervorragend zum „Traum vom Anderssein“ passt, den der Herausgeber Wolfgang Martynkewicz in seinem Nachwort zur Ausgabe als Groddecks Hauptcharakteristik herausstellt, wird im Weiteren von Groddeck unmissverständlich und voller Demut erklärt: „So kann man denken und so zu denken führt nicht zur Selbstsucht, sondern zum Sichselbstaufgeben.“ Denn: „der Mensch [ist] nichts andres […] als ein unlösbarer Teil der Welt und die Welt nichts andres als ein unlösbarer Teil des Menschen.“ Der Arzt selbst ist auch nur insofern „göttlich“, wie er – genau wie seine Patienten – „Teil der Welt“ ist.

Groddeck verstand sich als philosophischer Arzt. Man wird in diesem vorzüglichen Band, der Texte aus den Jahren 1926-1934 enthält, neben Groddecks „oft beschworene[r] Liebe zum Nonkonformismus“ (Martynkewicz) auch die „Bruchstücke einer großen Konfession“ entdecken – die Früchte eines lebenslangen und hier zum Abschluss gelangenden Reifeprozesses. Im „Lebensherbst“, nach vielen Rückschlägen, einschließlich der „unerlaubten Verfälschung“ des Es – seines „therapeutischen Kernkonzepts“ (Mark F. Poster) – durch Freud, lässt sich in Groddecks „Autobiographischen Schriften“ keine Verbitterung, nicht einmal herbstliche Schwermut erkennen. Lebensfreude durchströmt wie am Lebensanfang auch diesen Lebensabschnitt, denn Groddeck weiß: „Der Reiz des Lebens ist: Früchte zu tragen, die Hoffnung des Lebens: Kräfte in sich zu speichern, um noch einmal und immer wieder Früchte zu tragen.“

Groddecks Einsichten sind Lebensweisheiten, die den Blick für „das menschlich Notwendige“ schärfen, die uns zeigen, was es heißt, „Mensch [zu] sein“. Sie sind erlebt und erlitten und werden mit einer entwaffnenden Offenheit vorgetragen. Die heitere Gelassenheit dieser Texte stammt aus der Selbstaufgabe und aus der Hingabe an die Macht des Es. Ihr feierlicher Ernst entspringt der tief empfundenen „Ehrfurcht vor dem Dunkel der Seele“ und der Unergründlichkeit der Welt.

Titelbild

Georg Groddeck: Die Welt bin ich. Autobiographische Schriften.
Herausgegeben von Wolfgang Martynkewicz.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2013.
300 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783866000438

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