Steinmetz im Alphabet

Kurt Drawert schreibt über das Schreiben und öffnet den Blick für das Leben der Texte.

Von Jens PriwitzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Priwitzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wohnen zwei Seelen in Kurt Drawerts Brust? In seinem Langessay über das „Schreiben“ jedenfalls ringen zwei Perspektiven miteinander: die des Schriftstellers und die des Pädagogen. Drawert ist beides: erfolgreicher Lyriker, Romancier und Essayist, aber auch Leiter einer Textwerkstatt in Darmstadt. Also jemand, der schreibt, und der zugleich das Schreiben lehrt. Zumindest sieht es auf den ersten Blick so aus, doch der zweite enthüllt bereits, dass bei Drawert immer alles etwas komplexer ist als erwartet. Hintersinnig verweist schon der Untertitel auf „Das Leben der Texte“, wodurch mindestens das Eigenleben eines Textes gemeint ist. In zehn Lesungen führt der Autor dann den Leser durch den komplexen Geburtsprozess eines Textes und von Literatur überhaupt, erläutert die „Bedingungen“, beschreibt die Prozesse der „Bildung“, vermittelt die grundlegenden „Techniken“.

Dass es Drawert auch darum geht, Erwartungen zu enttäuschen, macht der Schriftsteller von Beginn an deutlich. Was ist denn nun Schreiben? In allererster Linie Handwerk – „denken wir an Zeitungsartikel, Gebrauchsanweisungen, Gesetzestexte oder dergleichen“. Das Schreiben eines Gebrauchstextes ist lehrbar, weil es der „Grammatik der öffentlichen Rede“ folge. Doch literarisches Schreiben? Hier sieht der Pädagoge Drawert schon früh seine Grenzen: „Denn Schreiben, literarisches Schreiben ist nur bedingt zu lehren und zu erlernen. Allenfalls müssten die Erfolgsschriftsteller im Rhythmus publizierter Ratgeberlektüren nur so aus dem Boden der Bücherwelt sprießen, die Literaturgeschichte würde sich allenfalls noch im Kreislauf ihrer Vorstellung bewegen, wie Literatur auszusehen hat, und nichts Neues, Überraschendes käme hinzu.“

Jemanden das Gespür für Literatur beibringen zu wollen, wäre wohl eine hoffnungslose Angelegenheit. Und doch unterrichtet Drawert selbst an einer Textwerkstatt in Darmstadt. Im zweiten Teil „Bildungen“ beschreibt Drawert anhand seiner Erfahrungen, was eine Schreibwerkstatt überhaupt zu leisten vermag. Ihr Vorteile „ist die Kontinuität in der Begleitung eines Autors über eine längere Zeit“. Die Literaturwerkstatt zeichnet sich durch Prozesshaftigkeit aus, durch wiederholte Kritik, aber auch einen allgemeinen Respekt Autor und Text gegenüber. Denn die Werkstatt „ist ein geschützter öffentlicher Raum, der die Texte einer ersten Verallgemeinerung zuführt und einer Gruppe von Lesern, die über die gleichen Voraussetzungen verfügen: nichts anderes zu wissen als eben das, was von einem Autor geschrieben worden ist. Im Gegensatz zur Selbsthilfegruppe geht das Schreiben hier nicht von einem (therapeutisch gearteten) Ziel aus, sondern die Textproduktion hat immer auch die Aufgabe, „das Ziel erst zu finden.“

Für literarisches Schreiben bedeutet dies, ein Bewusstsein für den richtigen Ton zu entwickeln. Dies ist kein Diamant, der erst freigelegt sein will, sondern eine „Ahnung, die sich verdichtet und verschiebt, die Gestalt wird und dann wieder Ungestalt.“ Widerstände müssen bewegt, Hindernisse bewältigt, Textmassen bezwungen werden. Daher ist Schreiben und die Arbeit am Text-Block – hier durchaus wörtlich gemeint – nicht nur ein psychische, sondern auch eine physische Herausforderung. „Denn diese Arbeit am Block (und auch das hat mit ‚Blockade‘ zu tun) ist energiezehrend, eine Art Steinmetzarbeit im Alphabet.“ Nach einer langen Pause, durch Störungen, lange Abwesenheiten, Schreibschwierigkeiten, werde der Text ein anderer. Neue Einfälle und Umschreibungen verändern die gesamte Architektur.

Von der Makro- schwenkt der Blick auf die Mikro-Ebene, schon diese erweist sich als schwer beherrschbar. Nur wenn sich Gestalt und Gedanke gegenseitig befruchten können, so die Erkenntnis Drawerts, laufe die Textproduktion auf Hochtouren: „Zu früh anfangen heißt, noch keine Form zu haben und nicht zu wissen, wohin die Reise gehen soll. Nur ins Innere der Sprache zu reisen, ist noch keine Erzählung. Zu spät anfangen heißt immer: es ist zu spät. Die Erzählung ist weg; sie hat sich dort verschlossen, wo sie ihr Geheimnis hätte haben können, ihre halb geöffneten Tür in die Verliese einer bleibenden Undurchdringlichkeit. Weg heißt natürlich bei uns, sie, die Erzählung, ist zu deutlich geworden.“ Alles liege offen: Beginn, Konflikt, Lösungsversuche, Figurenentwicklung, Höhepunkt, Ende. Die Geschichte ist reine Technik, der „Stringenz ihrer Handlung folgt keine Bewegung der Sprache; sie braucht diese Bewegung auch gar nicht, weil sie nichts mehr zu suchen hat.“

Im dritten Teil schließlich widmet sich Drawert dann doch den Techniken des literarischen Schreibens. Im Schnelldurchgang rast er von der „Rhetorik der Zeichen“ zur Semantik von Vokalen, streift kurz Ironie und Pathos. Dann geht es auch schon weiter zur Prosa, wo Drawert kurz die Standorte und Erzählperspektiven erläutert und den Unterschied zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit erklärt. Schließlich geht er zur Lyrik über, einem der interessantesten Abschnitte des ganzen Buches. Man merkt sofort, hier ist Drawert in seinem Element: in der Stofflichkeit, der Materialität der Sprache, die für ihn den Reiz des literarischen, insbesondere des lyrischen Sprechens ausmacht. „Nicht die Idee steht hinter dem Text, wie wir es von der Prosa her kennen, sondern das isolierte, nackte, morphologisch gegebene und noch zu keinem Sinn gefügte Wort; sein Klang, sein Geschmack, sein Gewicht, sein stoffliches An-und-für-Sich.“

Im Grunde kann man sich jedes Unterkapitel in Drawerts Buch einzeln vornehmen. Allerdings droht manches Mal, dass die Vielfalt der eingeführten Aspekte – Drawert referiert ausführlich Jacques Lacan und Roland Barthes, Franz Karl Stanzel und Kurt Bühler – nur lose nebeneinander steht, anstatt sich zu einem harmonischen Ganzen zu vereinigen. Gewinnbringend für den Leser sind aber viele Passagen, in denen Drawert seine Ausführungen sehr anschaulich machen kann. Die Ur-Szene, auf der literarisches Schreiben elementar beruht, beschreibt er sehr prägnant. „Wenn, wie wir sagten, die Sprache das Gesetz ist und die Stimme des Vaters, dann ist das Sprechen die Stimme der Mutter und die stille Unterwanderung des Gesetzes.“

Drawert nimmt den Leser mit auf die Suche nach den Triebfedern des Schreibens und an den Grenzbereich, an dem aus einem alltäglichen Sprachgebrauch ein poetischer Text wird. Daher ist „Schreiben. Vom Leben der Texte“ keine typische Poetikvorlesung, in der ein Schriftsteller Auskünfte über sein Schreiben gibt, trotz aller Systematisierungsversuche ist es aber auch kein regelpoetisches Pamphlet. Sondern ein anregendes, informatives, unterhaltsames, manchmal auch sehr persönliches Buch, das immer den Doppelblick auf Theorie und Schreibpraxis zu vereinen weiß. Dass hier sowohl ein Autor als auch ein Pädagoge schreibt, erweist sich somit als zweifacher Gewinn: für poetische Bilder, die bleiben, sorgt der eine, der andere für eine klare Struktur, die dem Leser immer das Gefühl vermittelt, selbst das Steuer in der Hand zu halten.

Titelbild

Kurt Drawert: Schreiben. Vom Leben der Texte.
Verlag C.H.Beck, München 2012.
288 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406639456

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch