Endlich Kanon?
Ein Text + Kritik–Heft widmet sich Franz Fühmann
Von Stephan Krause
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm vergangenen Jahr beging die Reihe Text + Kritik ihren 50. Geburtstag; die Titelfrage lässt sich daran knüpfen, denn das nun vorliegende Fühmann-Heft der Reihe erscheint dreißig Jahre nach dem Tod des Autors am 8. Juli 1984 in der Berliner Charité (und Uwe Kolbe wünscht sich in seinem Beitrag, es wäre schon 1982 herausgekommen). Andere Autorinnen und Autoren sind weitaus früher, zu Lebzeiten zumal, in der Münchner Zeitschriftenreihe vertreten, Fühmann aber erst jetzt. Das lässt sich als Symptom verstehen.
Der Herausgeber des Heftes, Jürgen Krätzer (Halle/Saale), thematisiert diesen Zusammenhang zwar nicht offen, doch steht dem Heft ein Abschnitt voran, der die Textergebnisse einer Rundfrage unter Schriftstellerinnen und Schriftstellern präsentiert. Die Frage lautete: ‚Warum Fühmann lesen?‘ Geantwortet haben Marcel Beyer, Christoph Hein, Wolfgang Hegewald, Ingo Schulze, Kathrin Schmidt, Peter Härtling und Uwe Kolbe. Erneut aufgeworfen wurde diese Frage im Rahmen zweier Gesprächsrunden (und gleichzeitig der Buchvorstellung) im Leipziger Haus des Buches am 24. April 2014. Hier boten neben Kathrin Schmidt, Marcel Beyer und Christoph Hein noch György Dalos, Katja Lange-Müller und Ulrike Almut Sandig vor gut gefülltem Saal ihre Überlegungen dar.
Die Frage zielt auf Fühmanns nur geringe Präsenz im Kanon und beruft sich auf die vermeintliche Ablehnung ihm gegenüber oder zumindest auf seine Unbekanntheit (zumal jenseits der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze). Dies sind mögliche Hindernisse für eine Kanonisierung. Demgegenüber ließe sich zumindest überlegen, ob nicht die Frage eigentlich falsch gestellt ist, mehr noch, wenn die Mehrzahl der Antwortenden – mit Ausnahme von Sandig, die bekannte, Fühmann erst in Vorbereitung ihres Vortrags gelesen zu haben – sich diese Frage von sich aus nicht gestellt hatten, sondern schlicht lasen. Zu fragen ist vielmehr: ‚Wie Fühmann lesen?‘ Dass die meisten Antwortenden im Heft diese Umformung für sich ohnehin vornahmen, zeigen ihre Texte.
Die Mehrzahl der hauptsächlich literaturhistorisch angelegten Beiträge des zweiten Teils bleibt – unausgesprochen – jener Frage verpflichtet. Das heißt, die Artikel liefern in meist deskriptivem Zuschnitt Gründe, die sich zweifellos und auch nachhaltig für die Lektüre von Fühmann-Texten stark machen lassen. Jürgen Krätzers Eingangsbeitrag ist kompakt, manchmal skizzenhaft, und bietet einen guten konzisen Überblick über Fühmanns Biografie in enger Verflechtung mit der Werkgeschichte. Krätzer gibt dem Thema Ausspionierung Fühmanns durch das MfS relativ breiten Raum und weiß die Zerklüftungen in Fühmanns politischer und dichterischer Biografie darzustellen.
Werner Nell (Halle/Saale) beschäftigt sich in seinem genauen und in exemplarischen Details ausgeführten Text mit „Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens“, einem Schlüsseltext für den Dichter und Schriftsteller Fühmann. Nell nimmt das Spannungsverhältnis von Fremdheit (des Eigenen und des Textes) und Offenheit der „Zweiundzwanzig Tage“ unter die Lupe. Er liefert damit eine an der Textgestalt und der inhaltlichen Gestaltung orientierte Lesart, die sich von der bei György Dalos (Budapest/Berlin) angebotenen unterscheidet. Denn Dalos weist vor allem auf die Darstellung Ungarns und der ungarischen Gesellschaft der 1970er-Jahre hin, die sich in „Zweiundzwanzig Tage“ findet. Er merkt nachdrücklich (deutlicher übrigens während des Leipziger Gesprächs) an, dass Fühmanns allzu positives Bild der ungarischen Verhältnisse sich nicht mit seinen eigenen Erfahrungen als Ungar decke und wohl auf Fühmanns wenig kritische Übernahme der Aussagen seiner Budapester Bekannten zurückgeführt werden müsse.
Vor allem aber ist Dalos` Text eine Würdigung des Nachdichters Fühmann und seiner Verdienste um die Bekanntmachung ungarischer Literatur in der DDR, wo Fühmann Nachdichtungen zahlreicher Texte von Attila József, Miklós Radnóti, Milán Füst, Ágnes Nemes Nagy und sogar Endre Ady publizierte und so bis heute wertvolle und lesbare Einblicke in die ungarische Dichtung der Moderne ermöglichte (weder József noch Radnóti z. B. sind nach Fühmann auf diesem Niveau übertragen worden).
Eine im Effekt (wohl) ähnliche Relativierung wie die von Dalos zu „Zweiundzwanzig Tage“ weist Andrea Jägers (Halle/Saale) Artikel zur Bedeutung der Arbeit bei Fühmann („Kabelkran und Blauer Peter“, „Im Berg“) auf. Jäger zeigt auf, in welcher Weise Fühmanns Absolutsetzung und gleichzeitige Mythifizierung der Arbeit und der Arbeiterfiguren in seinen Texten als „Einlösung des ureigenen Sinnbedürfnisses“ der Literatur wirke, sodass von „einer bodenlosen Überhöhung [sic!]“ der Arbeit zu sprechen sei.
Brigitte Krüger (Potsdam) stellt in ihrem Aufsatz in vier Schritten „Franz Fühmanns Traumkonzept“ vor, das sie auch anhand des von Fühmann lange projektierten und nie ausgeführten „Buchs der Träume“ erläutert. Anhand vielfältiger Beispiele aus Fühmanns Literatur zeigt sie, wie bei ihm, die im Traum vorfindbare und vorgefundene „Gefühlssensation […] zum entscheidenden Kriterium einer Literatur wird, die Daseinsgewissheit zu erschüttern und ein Begreifen herauszufordern vermag“.
Neben den insgesamt zwölf Aufsätzen in diesem Teil sind Fühmanns „Kleine Praxis des Übersetzens unter ungünstigen Umständen“ (Wiederabdruck) und ein Brief Adolf Endlers an den Autor abgedruckt. Endler lobt darin enthusiastisch Fühmanns „Saiäns-Fiktschen“ und ordnet den Erzählungsband in eine illustre Reihe der Weltliteratur ein.
Das Heft wird beschlossen von einer Auswahlbibliografie zu Autor und Werk. So gut strukturiert die beinahe zwanzig Seiten nach Werken geordneten Literaturangaben sein mögen, so wenig aktuell sind sie leider. Denn die Bibliografie enthält keinen einzigen nach 2009 erschienenen Titel. (Gunnar Deckers in jenem Jahr veröffentlichte Biografie brachte kein Quentchen Neues zu Fühmann.) Bereits eine kursorische Recherche in einem Online-Metakatalog aber erbringt mehr als dreißig Veröffentlichungen nach 2009 mit direktem Bezug zu Fühmann.
Das Text + Kritik-Doppelheft behandelt mit Franz Fühmann einen Autor, für den fast gilt, was auch über Mickel zu lesen ist, nämlich, dass er zu den Unbekanntesten unter den bekannten Dichtern des anderen deutschen Staates gehört. Zu wünschen bleibt, dass dieses Heft nicht die Ankunft im Kanon und damit den Abschluss der Beschäftigungen und Auseinandersetzungen mit Fühmann und vor allem seinen faszinierenden Texten belegt, sondern dass es ein – wenn auch an mancher Stelle unbedingt kritisch zu hinterfragender – Beitrag zum Bekannter-Werden dieses unumgänglichen deutschen Autors des 20. Jahrhunderts ist. Nicht mehr und nicht weniger.
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