Zwischen topischer Beschreibung und empirischer Naturwahrnehmung

Carola Susanne Fern untersucht Funktion und Darstellung von Seestürmen in der mittelhochdeutschen Epik

Von Reinhard BerronRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reinhard Berron

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Seesturm, ein auf den ersten Blick abgelegenes Motiv, ist in überraschend vielen Werken des Mittelalters präsent. Den Seesturmdarstellungen, die auf die zeitgenössische Naturwahrnehmung schließen lassen und in der bisherigen Forschung kaum Beachtung gefunden haben, nähert sich eine Monografie von Carola Susanne Fern mit Analysen, die neben den Beiträgen der literaturwissenschaftlichen Forschung auch geografische, meteorologische und nautische Kenntnisse einbeziehen.

Fern betreibt ihre Textanalyse anhand eines festen Fragekatalogs, der nach den Komponenten des Sturmes und den darin vermittelten Kenntnissen sowie der inhaltlichen und formalen Funktion des Sturmes im Text fragt. In drei interpretatorischen Hauptteilen widmet sie sich den folgenden Komplexen: althochdeutsche und altsächsische Bibeldichtung; „Alexanderroman“ und „Herzog Ernst“; „Eneas-Roman“, „Tristan“ und „Parzival“. Sie befragt die Beschreibungen des Seesturms danach, ob sie einem topischen Muster oder selbsterlebter Anschauung folgen. Das bekannteste Muster ist der antike Seesturm-Topos, wonach der Sturm stets nachts oder bei Dunkelheit aufzieht und nach dessen Abklingen eine Episode der Ruhe folgt. Manche dieser Elemente lassen sich auch in biblischen Seesturm-Schilderungen finden.

Zunächst gelingt der Autorin der Beleg, dass der Seesturm in vielen Texten der mittelhochdeutschen Epik eine handlungsrelevante Rolle spielt. So wird Herzog Ernst im gleichnamigen Epos durch einen Sturm von seinem ursprünglichen Kurs auf das Heilige Land abgebracht, worauf er zahlreiche Abenteuer erlebt, die ihn bis nach Indien führen. Nach langen Jahren, in denen er dort zum Herrscher bestimmt wird, bedarf es wieder eines Seesturms, der eine Handelsflotte von ihrem Kurs abbringt, die Ernst und seine Dienstleute wieder in die Heimat mitnimmt.

In Lamprechts „Alexanderroman“, dem auch ein gewisser Einfluss auf die „Herzog Ernst“-Handlung zugeschrieben wird, verhindert ein heftiger Seesturm dagegen beinahe den Sieg Alexanders vor Tyrus, indem er die vor Anker liegende Flotte weitgehend zerstört.

Für beide Epen ist der Seesturm folglich handlungsrelevant in Bezug auf die Reise in den Osten: während er für Alexander nur eines unter vielen Hindernissen auf dem Weg zur Weltherrschaft bedeutet, das ihn zur Demut anhalten sollte, befördert er die Reise des Herzogs, die, obwohl er Jerusalem erst auf dem Rückweg erreicht, als Bußleistung verstanden wird.

Die handlungsrelevante Position des Seesturms spiegelt sich dagegen nicht im Umfang von dessen Beschreibung wider. In den Texten, bei denen auf Vorlagen zurückgegriffen werden konnte, wie beim „Alexander“- oder „Eneas“-Roman, wurde die Beschreibung des Seesturms eher gekürzt; dies zeigt laut Fern, dass es nicht der Anspruch der Verfasser und Bearbeiter gewesen sei, das Naturphänomen ‚Seesturm‘ anschaulich darzustellen.

In der Straßburger Version des „Alexanderromans“ und in der Fassung D des „Herzog Ernst“, deren Entstehung etwa auf die gleiche Zeit datiert wird, finden sich allerdings deutliche Spuren des Interesses an meteorologischem und nautischem Wissen. In der Beschreibung des Seesturms vor Tyrus ist besonders die für die Windverhältnisse vor dessen Küste plausible Benennung des Sturmes als Boreas bemerkenswert. (Erstaunlich ist auch die im „Basler Alexander“ erfolgte Umbenennung zu ‚Westwind‘, die Fern zufolge auf eine Anpassung der Szene an die Verhältnisse der Nordsee zurückzuführen sei.) Im „Herzog Ernst D“ wird der Seesturm mit allen Komponenten eines sommerlichen Hochdrucksturmes, wie er als Erscheinung des Schirokko entstehen kann, geschildert, wie Fern mit meteorologischer Präzision beschreibt. Einige Details in den weiteren „Herzog Ernst“-Fassungen erinnern dagegen an den antiken Sturm-Topos, wie die Beschreibung der Ruhe nach dem Sturm in den Versionen B und F oder das Stattfinden des Seesturms bei Nacht in der Frankfurter Prosafassung. Die Beschreibung der Ruhe nach dem Sturm in der Version B sei jedoch auf die Konvention zurückzuführen, das Schöne und nicht das Hässliche zu beschreiben.

Mindestens ebenso häufig wie auf Passagen, die auf meteorologisches Wissen hinweisen, stößt Fern in ihren Analysen auf Zeugnisse nautischen Wissens. Die Unterschiede, die in den Bibeldichtungen des neunten Jahrhunderts in der Schilderung der Beruhigung des Meeres durch Christus (Mt 8,23-26) aufscheinen, versucht Fern auf den mutmaßlichen Verfasser zu beziehen. Dabei setzt sie die Vertrautheit mit maritimen Gegebenheiten in Relation zum Entstehungs- und Wirkungsort und stellt die Frage nach möglichen Reisen des Verfassers. Sie gelangt zu dem Ergebnis, dass in dem am weitesten vom Meer entfernt entstandenen Werk, Notkers „Psalter“, am wenigsten meereskundliches Wissen verarbeitet worden sei, wohingegen der altsächsische Heliand eine „Fülle maritimer Begriffe und Details“, vor allem die Bauart des Schiffes betreffend, biete. Fern stellt jedoch selbst fest, dass dieses Ergebnis nur auf den ersten Blick folgerichtig erscheine, da auch der in St. Gallen wirkende Notker auf dem nahen Bodensee von Schifffahrt und Stürmen hätte erfahren können.

Neben den Analysen der althochdeutschen und altsächsischen Texte sowie des „Alexanderromans“ und des „Herzog Ernst“ fällt die Qualität der Analyse in den Kapiteln zum „Eneas-Roman“ und zum „Parzival“ etwas ab. So widmet sich Fern auf mehreren Seiten der Diskussion, warum die Dido-Episode handlungsnotwendig sei, um die Frage nach der formalen Rolle des Seesturms im „Eneas-Roman“ zu beantworten. Auch in der Analyse der Seestürme in den Gahmuret-Büchern lässt sich Fern zur Diskussion einer Frage der Figurenebene, nämlich der Beziehung zwischen Belakane und Gahmuret, verleiten. Dies wird als notwendig erachtet, um die Seestürme als bedeutsam für die Erfüllung des göttlichen Heilsplans zu erklären. In beiden Fällen scheinen dabei die hauptsächlichen Leitfragen etwas aus dem Blick zu geraten.

Die erzielten Ergebnisse sind insgesamt wenig überraschend: Als Topos ist der Seesturm im Mittelalter nicht fest umrissen, es gibt keinen festen Katalog von Phänomenen. Der Seesturm ist immer relevant für den Handlungsverlauf und bewirkt oft einen Ortswechsel. (Fern charakterisiert daher den Seesturm als Wahrnehmungstopos statt Gestaltungstopos.) Die eigentlichen Naturereignisse werden kaum beschrieben, da sie durch ihre Stellung in der Handlung überwiegend das Resultat von direktem oder indirektem göttlichen Handeln sind. In Gottfrieds „Tristan“ kommt ein Seesturm auf, der die Entführer Tristans auf ihr verbrecherisches Tun hinweist; kaum haben sie das Zeichen richtig gedeutet, legt sich der Seesturm.

Interessant ist die diskursive Anbindung des Ergebnisses, dass technische und meteorologische Details sich vor allem in den Texten des 13. Jahrhunderts fänden. Die den Seesturm betreffenden Passagen der analysierten Texte sind in zahlreichen Tabellen überblicksartig zusammengefasst; zudem schließt sich ein ausführlicher Quellenteil an die Arbeit an, in dem neben den der Interpretation zugrundeliegenden Textausschnitten weitere Passagen aus Texten, die im Analyseteil nicht oder nicht ausführlich behandelt werden, mit kurzen Situierungen zur Thematik abgedruckt sind.

Allein schon auf die Rolle, die Seestürme in der deutschen Literatur des Mittelalters spielen, aufmerksam gemacht zu haben, ist ein großes Verdienst dieser Arbeit. Am meisten überzeugt Fern allerdings durch die Verbindung ihrer literaturwissenschaftlichen Analysen mit Meereskunde, Nautik und Schiffbau betreffenden Kenntnissen, die zum Teil auf bei Meteorologen und Seeleuten eingeholte Auskünfte zurückgehen. Mit der Umsetzung dieses interdisziplinären Verfahrens ist Fern eine lesenswerte Studie gelungen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Carola Susanne Fern: Seesturm im Mittelalter. Ein literarisches Motiv im Spannungsfeld zwischen Topik, Erfahrungswissen und Naturkunde.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2012.
346 Seiten, 56,80 EUR.
ISBN-13: 9783631613238

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