Das Interessante als Stimulans

Lothar Pikulik hat einen Band zum „Wandel der Kunst- und Lebensanschauung in der Moderne“ publiziert

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf dem Hintergrund der (gewiss schon auf Aristoteles zurückgehenden) Ansicht, wonach das literarische Werk immer schon mehr als die Abbildung einer planen und kruden Wirklichkeit anbiete, nämlich Möglichkeiten von Realität aufzeige, beschäftigt sich Lothar Pikulik in seinem neuen Buch ebenso mit der Ästhetikgeschichte wie mit paradigmatisch zu verstehenden literarischen Texten. Literatur, insbesondere seit wir von ihr als einer modernen sprechen, habe sich von „der bloßen Wirklichkeitsnachahmung emanzipiert“, um vielmehr „das Bild der Welt als Gleichnis“  zu verstehen. Oder in den Worten von Georg Simmel, des Soziologen und späteren Lebensphilosophen: das literarische Kunstwerk bietet „Mehr-Leben“ und „Mehr-als-Leben“.

In zwei großen Teilen entwickelt Pikulik seine Thematik. Auf einen theoretischen Grundlegungsteil, in dem er die (Ästhetik-)Geschichte des Interessanten vom ersten Auftreten in der Aufklärung über den frühromantischen Neuansatz bis ins frühe 20. Jahrhundert rekonstruiert, lässt er zugleich systematische Aspekte (Liebe, Romantik, Langeweile und die Reize des Bösen) folgen, die in minuziöser Interpretationsarbeit an ‚klassischen‘ bzw. ‚kanonischen‘ Texten nachgewiesen werden. Dabei spannt er einen großen Bogen, der – wie es der Untertitel präzise formuliert – den „Wandel der Kunst- und Lebensanschauung in der Moderne“ überwölbt. Das Interessante, daran erinnert Pikulik zu Recht, entsteht – flächendeckend – mit der Subjektivität, und zwar einer romantischen und modernen, die sich von den transzendentalen Vorgaben der kantischen Ästhetik (des interesselosen Wohlgefallens) emanzipiert hat und nun nach schärferen Reizen und prickelnderen Spannungen sehnt. Dabei zeigt sich sogleich das Janusgesicht, denn die Langeweile – bereits von Schopenhauer neben dem Schmerz als dem Existenzausweis bürgerlicher Saturiertheit perhorresziert – bestimmt mehr und mehr das Leben der Menschen, durchaus mit Nietzsche: ebenso des Ausnahmemenschen wie auch der Viel-zu-Vielen in der Masse.Es müssen also Experimente her: „Erprobungen des Denkbaren“, die von der Inszenierung einer heimischen Welt der schönen Dinge, unter anderem in Oscar Wildes „Dorian Gray“, aber auch J. K. Huysmans „A rebours“, über eine wilde „Erlebenssehnsucht“, die sich nicht zuletzt in der Welt des Abenteuerlichen und der Kolportage zeigt, bis schließlich, wenn so etwas wie Saturiertheit und Langeweile epidemisch zu werden beginnen, zur Apologie des Bösen und der Gewalt reichen, wie Pikulik insbesondere in seinen Interpretationen zu Thomas Mann oder Ödön von Horvath deutlich macht.

Das Interessante, so rekapituliert Pikulik noch einmal zum Ende seiner beeindruckenden und glänzend geschriebenen Studie, die sich bestens als Einstieg für Studierende (höherer Semester) ins Gebiet der Ästhetikgeschichte eignet, löst in der Ästhetik diejenige des Schönen ab und macht zugleich das Nicht-Schöne „zu einem Objekt des Reizes, vor allem der Neugier und des Begehrens“. „Gleichzeitig erfüllt das Interessante eine psychologische Funktion, die ebenso im Leben wie in der Kunst zur Geltung kommt: als Stimulans, das die Stagnation und Leere der Alltagswirklichkeit aufhebt und sich so als Therapie gegen die Langeweile des modernen Menschen bewährt.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Lothar Pikulik: Ästhetik des Interessanten. Zum Wandel der Kunst- und Lebensanschauung in der Moderne.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2014.
232 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783487151083

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch