(K)eine ganz gewöhnliche Straße

Im Bayerischen Viertel Berlin-Schönebergs: Pascale Hugues entdeckt ihre Nachbarn

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer will, kann eine Straße als bloße Durchgangsstation ansehen. Wie Edgar Froese es tut, der Kopf der Gruppe Tangerine Dream: „An Straßen hängt man nicht – man verlässt sie, kommt wieder zu ihnen zurück oder geht einfach, um nicht mehr wiederzukehren“. Man könnte eine Straße aber auch als eine Art Persönlichkeit betrachten, mit einer eigenen Biografie – mit Hoffnungen und Verletzungen, einer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Wer das macht, kann auf erstaunliche Entdeckungen stoßen. So erging es Pascale Hugues, als sie begann, „ihre“ Straße zu erforschen. Seit zwanzig Jahren lebt die französische Journalistin im alten Berliner Westen, jetzt hat sie über ihre Straße und die Menschen, die in ihr wohnten und wohnen, ein kleines Wunder von Buch geschrieben. Dieser „Mikrokosmos“ habe ihr „die ganze Republik“ entschlüsselt, schreibt Hugues. So verriet ihr etwa ein Streit um einen Stillen Portier, mit dem ein Psychoanalytiker an die einst im Haus lebenden Juden erinnern wollte, etwas über den Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit. Doch ist es nicht nur die Bundesrepublik, die an diesem überschaubaren Ort zu finden ist, es ist das ganze deutsche 20. Jahrhundert.

Schon 2008 hat Pascale Hugues mit einem Buch über ihre Großmütter „Marthe & Mathilde“ Zeitgeschichte „von unten“ erzählt. In ihrer empathisch-pointiert geschriebenen Hommage porträtiert sie nun mit liebevollem Humor und feiner Ironie ihre Nachbarn. Etwa Frau Soller, die ehemalige KaDeWe-Angestellte. Als „gute Seele“ ihres Hauses goss sie 38 Jahre lang für ihre Mitbewohner die Blumen und sorgte für den Weihnachtsschmuck. Als sie dann doch auszog, entdeckte Frau Soller unter der Tapete vergilbte Zeitungsseiten von 1941 mit „reihenweise Ritterkreuzträgern, Sturmbannführern und Fallschirmjägern“, die ohne ihr Wissen all die Jahre über ihren Schlaf gewacht hatten.

Oder Anneliese Krüger, die einst mitten im Luftkrieg einen Fotografen kommen ließ, der Aufnahmen ihrer noch intakten Wohnung machte, vom Herrenzimmer mit der Standuhr bis zur Kirschbaumkommode. Zwar traf wenig später tatsächlich eine Bombe das Haus Nr. 19, doch Anneliese Krüger konnte die meisten ihrer geliebten Möbel durch die Kriegswirren retten und ihrer Tochter vererben – die seit nunmehr 50 Jahren in Lichterfelde-West in einer Art Nachbildung der Wohnung ihrer Mutter lebt.

Nicht, dass Hugues‘ Straße in irgendeiner Weise besonders wäre. Es ist nur „eine ganz gewöhnliche Straße“ in Berlin-Schöneberg, betont die Autorin, im sogenannten Bayerischen Viertel. So gewöhnlich, dass auch ihr Name keine Rolle spielt und an keiner Stelle im Buch genannt wird. Kein Ereignis in ihr habe seinen Weg in die Geschichtsbücher gefunden, und an Klatsch hat sie nur ein Bordell im Erdgeschoss der Nr. 26 und einen Mord in der Nr. 15 zu bieten. Dennoch ist in der reinen Wohnstraße „unendlich viel passiert“, so Hugues – und erzählt vom „Pennerpark“ und der Kaiser-Barbarossa-Apotheke, von Trümmerfrauen und Restitutionsprozessen, von Wohnungsbesetzungen und den ersten Ausläufern der Gentrifizierung in ihrer Straße, vom nächtlichen Geräuschkonzert in den Hinterhöfen und vom Afrikaner, der jeden Morgen mit seinem Straßenstaubsauger die Hundehaufen einsammelt.

Heute gehört das Bayerische Viertel nicht gerade zu den hippen Kiezen Berlins. Das war einst anders: Die Dokumente, die Pascale Hugues in den Archiven fand, Genehmigungsanträge, Zeichnungen und statische Berechnungen, sind ganz von den Hoffnungen der Gründerzeitära imprägniert. Die stolzen Bauherren errichteten um 1904 Mietshäuser „für die Ewigkeit“, mit repräsentativen Wohnungen, die bis zu zehn Zimmer hatten, mit marmorierten Eingangshallen und prunkvoll verzierten Fassaden. Hier wohnten einst Kaufleute, Ärzte, Professoren, Beamte und Rentiers.

Darunter auch viele Juden. 106 deutsche Juden wurden nach 1933 aus Hugues’ Straße deportiert. Eine Suchanzeige der Autorin nach noch lebenden jüdischen Zeitzeugen führte zu Rückmeldungen aus Israel, New York oder Kalifornien – als hätten sie darauf gewartet, ihre Geschichte endlich erzählen zu können. Wie Miriam Blumenreich, Jahrgang 1931, die heute nahe Haifa lebt. Von der Autorin ließ sie sich aus Berlin zwölf Tüten Käsekuchenmix und Sahnesteif mitbringen: „Dr. Oetker ist Miriam Blumenreichs Marcel Proust.“

Am erstaunlichsten ist wohl die Geschichte von Lilly Ernsthaft, „unserer Straßenältesten“, wie Hugues schreibt, der „letzten Vertreterin des deutsch-jüdischen Bürgertums in meiner Straße“: 79 Jahre lang lebte sie in der Nr. 3, ehe sie 99-jährig in ihrem Ehebett von den Sanitätern aus dem Haus getragen wurde. Als sich Pascale Hugues bei Kaffee und Kuchen von Lilly Ernsthafts prominenten Freunden in den Weimarer Jahren erzählen ließ, war nur wenigen in der Straße bekannt, dass die alte Dame Jüdin war.

Ihr Mann, ein Unternehmer, hatte die Wohnung einst 1905 gemietet, geheiratet wurde 1922, den Holocaust überlebten die Ernsthafts gemeinsam im Keller des Berliner Jüdischen Krankenhauses – und kehrten dann einfach in ihre heil gebliebene Wohnung zurück, als wären nicht auch sie nach 1933 verfolgt und gedemütigt worden. Von der früheren Pracht der Straße ließ der Krieg freilich kaum etwas übrig; zwei Drittel der Häuser wurden zerstört, in den übrigen die Wohnungen für die Adenauerära zurechtgeschrumpft. Nach dem Krieg entstanden auch hier gesichtslos-graue Zweckbauten. Statt Großbürger leben hier nun Verkäufer, Angestellte und kleine Beamte, statt Stuckgiebel und Erkertürmchen herrscht jetzt die „Farblosigkeit der Mittelklasse“.

Kein Ort, an dem man vermuten wurde, dass hier zumindest einst Musikgeschichte geschrieben wurde. Doch so war es, wie Hugues verblüfft entdeckte: In den siebziger Jahren hatte Tangerine Dream in der Nr. 7b ihr Studio – die ausgerechnet zu den Lieblingsbands der Autorin gehört. Nicht nur Brian Eno und Iggy Pop gingen dort ein und aus, auch David Bowie lebte hier als Gast Edgar Froeses zwischen all den Kleinbürgern: „Meine Straße verwandelte sich vor meinen Augen in einen Treffpunkt von Weltstars und Punkrockern … David Bowie war mein Nachbar!“

Titelbild

Pascale Hugues: Ruhige Straße in guter Wohnlage. Die Geschichte meiner Nachbarn.
Übersetzt aus dem Französischen von Lis Künzli.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2013.
319 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498030216

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