Vom „Wahrlügen“ und Totschweigen

Heike Kühns Debütroman „Schlangentöchter“ spielt mit Fantasy und Realismus

Von Simone Elisabeth LangRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Elisabeth Lang

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wahrlügen“, das ist das Schlagwort, mit dem der gesamte Roman „Schlangentöchter“ sich pointiert bereits am Ende des dritten Kapitels selbst beschreibt. Wahrlügen, das ist Umschreiben und Beschönigen der grausamen Ereignisse der Vergangenheit, und es ist die einzige Möglichkeit, diese erträglich zu machen. „Wer wollte schon über den Krieg sprechen? Die Erwachsenen gaben die Antwort, dass sie überlebt hätten. Die Kinder lernten, den Mund zu halten und das Überleben mit dem Leben zu verwechseln. Elsbeth hatte es sich angewöhnt, das Erlittene zu umschreiben. Von sich zu erzählen, das war Wahrlügen.“

Und doch bietet dieses „Wahrlügen“ nicht die Lösung, schieben die Figuren die traumatischen Ereignisse auf diese Weise nur weiter von sich fort, statt sich mit Ihnen auseinanderzusetzen. Schweigen ist die Krankheit der Gesellschaft, so das implizite Motto des Romans „Schlangentöchter“, in dem der Umgang mit der Vergangenheit der Figuren zum Prinzip des Romans wird. Denn auch im Roman selbst werden die Ereignisse zwar thematisiert, dabei aber erträglich gemacht. Auf jeder Seite erwartet den Leser eine Mischung aus Realismus und Fantasy, die die Thematisierung des nicht-Thematisierbaren erst ermöglicht.

Bereits ein Blick auf das Buchcover zeigt die Bedeutung dieser Mischung an: eine schwarz-rot-gelbe/goldene Schlange prangt auf dem Cover und macht neugierig auf das, was den Leser im Innern des fast 400 Seiten starken Romans erwartet: Aberglaube, Scheintote, ein sprechender Schlangenschwanz, Hellseherei, eine schweigende und doch schreiende Frankfurter Familie und deren traumatische Erfahrungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und danach treffen in der Lebensgeschichte der Tonie Alles aufeinander.

Heike Kühn, Filmkritikerin und freie Journalistin von Beruf, hatte schon immer vor, einen Roman zu schreiben. Ihr Erstling zieht den Leser gleich zu Beginn in seinen Bann und lässt ihn nicht mehr los. Gefangen in der Welt der Familie Alles, erfahren wir zunächst einiges über den Hausherrn, Hartmut Alles, der alles kann und weiß und alles im Griff zu haben scheint. Eigentlich aber ist er nur ein schwaches und unausstehliches Anhängsel. Alles, ein erfahrener Schlangenexperte, ist vor lauter Schreck über die Nachricht, eine Tochter statt des ersehnten Sohnes bekommen zu haben, unaufmerksam und wird von einem seiner Tiere gebissen. Krankenhaus, Amputation des Fingers, Visionen von der Notwendigkeit der Ermordung seiner soeben geborenen Tochter folgen.

Die kleine Tonie kommt mit einem Geburts–„Fehler“ auf die Welt, wie Ihre Mutter mit Schrecken und ihre Großmutter mit Gelassenheit feststellt: Sie hat einen Schlangenschwanz. Bald wird die Familiengeschichte nachgetragen und wir erfahren mehr über die Bedeutung des Schlangenschwanzes, der den weiblichen Mitgliedern der Familie bis zu deren Verlust der Unschuld zur Seite steht und ihnen verschiedene Fähigkeiten verleiht wie die, mit Toten zu sprechen. Tonie verliert ihren Schlangenschwanz physisch durch die Schuld ihrer Tante bereits gleich nach der Geburt, er steht ihr aber von nun an ihr Leben lang zur Seite. Tonie begegnet vielen Situationen, in denen sie ihren Schlangenschwanz und ihre toten Ahnen, mit denen Sie Kontakt aufnehmen kann, braucht. Nicht nur die Misshandlung ihrer älteren Halbschwester, auch der Tod der geliebten Großmutter, vor allem aber das durch Kriegstraumata hervorgerufene seltsame Verhalten all ihrer Verwandten, geben Rätsel auf, mit denen Tonie dank ihrer übernatürlichen Fähigkeiten umzugehen lernt.

Besonders hervorzuheben ist die Erzählweise der exakten Beschreibung der fiktiven Ereignisse des Romans. Der Leser wird vom Erzähler mit allen Informationen versorgt, gleichsam wie in einem Film „sieht“ man die Handlung direkt vor sich, die Figuren und deren Welt gewinnen eine Schärfe, wie sie selten erreicht wird. Das mag nicht zuletzt mit der engen Verbundenheit der Autorin des Werks mit dem Medium des Films zusammenhängen. An eine filmische Darstellung erinnern einige Szenen, die an Detailgenauigkeit kaum zu überbieten sind.

Die Vermischung der Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs mit der Gegenwart des Frankfurts der 60er bis 80er-Jahre macht den besonderen Reiz des Debütromans von Heike Kühn aus. Die Durchdringung der Gegenwart durch die Vergangenheit und die unendliche Verlorenheit der Opfer in ihrer Unfähigkeit, die Traumata zu überwinden, werden hier geradezu spürbar. Im Vordergrund steht dabei immer das Thematisieren selbst, das Erzählen über sich, das als Lösungsmöglichkeit mehr und mehr an Kontur gewinnt.

Die Kombination des Themas der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse und der Verhandlung derselben im Rahmen der Fantasy ermöglicht es dem Leser laut Heike Kühn, „über das immense Leid zu lesen, ohne sich abwenden zu müssen, weil es so groß ist“. So sehr dieser Kunstgriff beeindruckt, so sehr führt er an einigen Stellen aber auch dazu, dass der Roman überfrachtet wirkt. In ihm werden Erlebnisse aus der NS-Zeit verarbeitet, schwere Themen wie Kindsmord, Vergewaltigung und Missbrauch behandelt. Die Fülle der Themen resultiert besonders im ersten Drittel des Romans schnell in einer Überforderung des Lesers und eine Beschränkung auf etwas weniger Stoff hätte dem Roman wohl gut getan. Das liegt auch daran, dass die Beziehungen zwischen der Erzählzeit und der zu bewältigenden Vergangenheit nicht immer geradezu zwingend sind. Manche Stellen wirken allzu gewollt und zeigen ihre Gemachtheit derart offensichtlich an, dass die Verbindung von Thema und Werkzeug der Erarbeitung an Faszination verliert.

Gleiches gilt für die sehr bildhafte Sprache, die den Leser an einigen Stellen mit dem Holzhammer auf Vergleiche stößt und dadurch etwas flach wird: „Er hatte ihr seine Sammlung golden glänzender Knöpfe gezeigt. Er verwahrte sie in einer Schachtel hinter dem ausgemusterten Baumwollstoff. ,Man weiß ja nie‘, hatte er gesagt und sie lange angeschaut, um zu prüfen, wie ihr Charakter vernäht sei.“

Insgesamt ist der Roman aber trotz der thematischen Überladenheit ein furioses Debüt, das erzählerisch begeistert und Lust auf weitere Romane von Heike Kühn macht.

Titelbild

Heike Kühn: Schlangentöchter.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2014.
382 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783627002046

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