Unheimliche Provinz

„Un giorno della vita“, Giorgio Orellis Sammlung mit Erzählungen aus dem Tessin und der Toskana der Nachkriegszeit, ist in einer zweisprachigen Ausgabe neu erschienen

Von Olaf MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In „Un giorno della vita“ (Ein Tag des Lebens), der Geschichte, die dem Band mit kurzen Erzählungen von Giorgio Orelli seinen Titel gibt, will der Bankangestellte Antonio Gandolli aus dem Tessin für zwei Tage zu einer Militärübung in die alemannische Schweiz fahren. „Vielleicht schaffe ich es diesmal“, beginnt der Text, und man ahnt, dass Gandolli nur widerwillig die Zugreise antritt, da sein Blick auf dem Weg zum Bahnhof ziellos umherschweift und sich auf der verschneiten Straße an den nebensächlichsten Details aufhält. Im Zug verfolgt er die Gespräche seiner Mitreisenden, zeichnet Frauengesichter in sein Notizbuch und schließlich auf das beschlagene Zugfenster, um den zerlaufenden Linien dann aufmerksam nachzublicken. Als er an seinem Bestimmungsort angelangt ist, helfen all diese Ablenkungsversuche nichts mehr, und beim ersten Kontakt mit der militärischen Hierarchie in Gestalt einer korpulenten Soldatin, die den Appell durchführt, erleidet er einen Schwächeanfall und meldet sich, kaum angekommen, sofort krank. Auf dem Rückweg fällt ihm am Bahnhof ein, dass er seine Schwester Ausilia besuchen könnte, die in einem Internat auf dem Weg wohnt. Seine Schwester stellt ihn stolz ihren Mitschülerinnen und den Lehrerinnen vor, wir erfahren noch, dass Gandolli in seiner Freizeit russische Literatur übersetzt, dann geht er mit Ausilia und deren österreichischer Freundin Rosemarie spazieren, wobei er Geschichten erzählt, „kurze Geschichten über den Winter, so gut er es kann in der Sprache Rosemaries“.

Der offene Anfang und der offene Schluss sind kennzeichnend für alle dreizehn in Un giorno della vita versammelten Erzählungen, wobei die Titelgeschichte mit ihrer minimalen Handlung noch die ereignisreichste ist. Das Geschehen verdichtet sich in den meisten Texten kaum zu einer klar strukturierten Geschichte, vielmehr zeichnet der 2013 verstorbene Orelli, der in der Schweiz vor allem als Lyriker bekannt ist, Skizzen aus einer überwiegend ländlich-archaischen Welt, in der die Figuren in enger Verbindung zur sie umgebenden Landschaft stehen. Die Geschichte des Bankangestellten Gandolli ist auch insofern eine Ausnahmeerscheinung in der Sammlung, als wir mit seinem Namen und Vornamen sowie seinem Beruf Informationen über den Protagonisten erhalten, die uns in den meisten anderen Erzählungen verweigert werden.

Wir erfahren selten mehr als die Vornamen der Personen, auch über Alter oder Aussehen wissen wir so gut wie nie etwas, und in welcher Verbindung sie zueinander stehen, lässt sich auch oft nur vermuten. Die zuerst 1960 im italienischen Original erschienenen Erzählungen hat der Züricher Limmat-Verlag nun in einer schönen zweisprachigen Neuausgabe vorgelegt. Die vermutlich schon für viele Leser von 1960 in weiten Teilen untergegangene Welt entlegener Orte in der Südschweiz oder der Toskana, die in den Texten evoziert wird, wirkt aus heutiger Sicht sehr fremd, und es gelingt Orelli, diese Fremdheit mit einer unterschwellig bedrohlichen Stimmung auszustatten.

Obwohl nie direkt von Gewalt die Rede ist, verbindet das Thema der Jagd, auf Tiere aller Art, aber auch auf Menschen, viele der Erzählungen untereinander. „Der Tod der Katze“ führt das Jagdopfer bereits im Titel, wobei besonders verstörend wirkt, dass völlig unklar bleibt, warum die Katze eigentlich getötet werden soll. Die Erzählung beginnt mit Impressionen einer Schweineschlachtung, womit das Thema bereits vorgegeben ist, und geht dann allmählich über zu Basilio, der beschlossen hat, dass er seine Katze umbringen muss. Während wir Basilio auf der Suche nach der zu tötenden Katze begleiten, erzählen sich einige der anderen Figuren von ihren Erlebnissen mit Katzen oder Raubvögeln, die sie erlegt haben. In fast allen Texten tauchen irgendwann Waffen auf, die meist nicht besonders geschickt gehandhabt werden, aber doch eine andauernde unterschwellige Bedrohung darstellen.

In mehreren Erzählungen konstituiert sich die Erinnerung der männlichen Protagonisten wahlweise über die Erinnerung an erlegte Tiere, an Begegnungen mit Frauen oder an bestimmte Speisen, deren Zubereitung zum Teil wiederum eine Jagd voraussetzt, wie die Seehühner mit Mispeln oder die Polenta mit Vögeln. Überhaupt übermittelt uns der Erzähler sämtliche Situationen aus einer männlichen Perspektive, Frauen tauchen fast nur als aus der Ferne betrachtete oder erträumte Objekte auf, abgesehen von einigen robusten Gastwirtinnen oder den bereits erwähnten weiblichen Personen in „Un giorno della vita“. Obwohl die Vornamen der Figuren fast ausnahmslos mit dem bestimmten Artikel versehen werden („der Mariolino“, „die Elvira“), was im Deutschen etwas ländlicher klingt als in den norditalienischen Dialekten, können die Erzählerstimmen, die mit diesen Namen versehen sind, bisweilen sehr gelehrte Vergleiche vornehmen. So erinnert in „Frühling in Rosagarda“ die Farbe eines erlegten Fasans den Erzähler an bestimmte Töne der Palette Bronzinos, an anderer Stelle zieht er Dante und Manzoni zum Vergleich heran, während in „Ein Tag des Lebens“ ein Müllfahrer Züge von Boccaccios Calandrino annimmt und eine Gastwirtin namens Giulia als Catulls Ipsitilla angesprochen wird.

Orelli, der selbst als Übersetzer, u. a. von Goethes Gedichten, hervorgetreten ist, arbeitet in seinen Prosatexten, wie die Übersetzerin Julia Dengg in ihrem Nachwort betont, ähnlich wie in seiner Lyrik (für einige Beispiele mit von Orelli selbst vorgetragenen Texten vgl. http://www.lyrikline.org/de/gedichte/nel-cerchio-familiare-1630#.U4ydDU2KBaQ) mit Binnenreimen, Alliterationen und assoziativen Verbindungen, die seine Sprache bisweilen sperrig und schwer übersetzbar machen. Vielleicht im Bestreben, die Sprache des Originals bis in die Satzstellung nachzuvollziehen, wählt die Übersetzerin an manchen Stellen Lösungen, die im Deutschen sehr unidiomatisch klingen, obwohl sie im Italienischen eher unauffällig sind, wie verdoppelte Adjektive zur Bestärkung einer Aussage („wird die Mafalda plötzlich düster düster“ für „si fa scura scura“) oder Partizipialkonstruktionen im Nebensatz („Die Schießerei ohne das Isabetta-Feuer beendet“ für „Finito il tiro senza il fuoco Isabetta“). Doch auch das Gegenteil stört ab und an, wenn italienische Konstruktionen, die sich nahezu wörtlich übertragen lassen, unnötig frei wiedergegeben werden („Il servizio militare bisogna prenderlo come un gioco, un gioco da giocare sul serio“, was eher heißt, „Man muss den Militärdienst wie ein Spiel nehmen, ein Spiel, das man ernst spielen muss“, als das von Dengg vorgeschlagene „Den Militärdienst muss man wie ein Spiel spielen, bei dem es ein blutiger Ernst ist“).

Aber es ist in jedem Fall eine verdienstvolle Leistung, die erstaunlichen Texte von Orelli auch einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht zu haben. Die zweisprachige Präsentation, die man sonst eher von Lyrikbänden gewohnt ist, deutet dabei bereits an, dass diese kurzen Erzählungen in ihrer Sprunghaftigkeit und ihrem Klangreichtum, die Dengg in ihrem Nachwort hervorhebt, auch als Prosagedichte aufgefasst werden könnten. Für den Ausdruck der Gleichzeitigkeit von scheinbar unbeschwerten Momenten und bedrohlichen Details, die die Brüchigkeit der idyllisch anmutenden Naturszenen und der in sie eingelassenen Zivilisation in Erinnerung rufen, ist Orellis Sprache jedenfalls bestens geeignet. Neben den toten Fasanen, Falken, Katzen, Eichhörnchen, Seehühnern oder Wacholderdrosseln, die die Erzählungen durchziehen, kann das auch die Darstellung einer Vogelscheuche zeigen, die am Ende der „Militärischen Suite“ auftaucht, als sich gerade alles in Wohlgefallen aufzulösen scheint, und von der es im allerletzten Satz heißt, dass sie „aussah wie ein gehängtes Kind“.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Giorgio Orelli: Un giorno della vita.
Zweisprachig. Mit einem Vorwort von Pietro De Marchi. Mit einem Nachwort von Julia Dengg.
Übersetzt aus dem Italienischen von Julia Dengg.
Limmat Verlag, Zürich 2013.
247 Seiten, 33,00 EUR.
ISBN-13: 9783857917042

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