Mit dem Bleistift überleben

Martin Kordic beeindruckt mit seinem anrührenden Romandebüt „Wie ich mir das Glück vorstelle“

Von Patrick WichmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Wichmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Martin Kordić ist ein beeindruckendes Romandebüt gelungen. In „Wie ich mir das Glück vorstelle“ gibt er dem kleinen Jungen Viktor eine Stimme, der seinen Alltag in den Wirren des Bosnienkrieges mit Bleistift und Notizheft festhält.

Der kleine Viktor lebt in einer eigentümlichen Welt. Zusammen mit einem Hütchenspieler, dem einbeinigen Dschib, haust er in einer Höhle, sammelt Tand und Trödel. Denn wer weiß, was später noch einmal nützlich sein kann. Um den Jungen herum wütet der Krieg, die Außenwelt liegt in Trümmern. Dass dieser Zustand für Viktor selbstverständlich ist, er zwar zwischen Krieg und Frieden zu entscheiden weiß, doch den einen wie den anderen Zustand frag- und klaglos hinnimmt, gehört zu den großen Kunstgriffen Martin Kordićs.

Der Leser sieht diese Welt ausschließlich durch die Augen der Erzählers Viktor, er liest gewissermaßen in dem Notizbuch des Jungen – und gewinnt damit einen kindlich-naiven Blick auf die Dinge. Der Bosnienkrieg spielt in „Wie ich mir das Glück vorstelle“ nur eine Nebenrolle. Im Fokus stehen all die kleinen Geschichten, die Viktor aus seinem Alltag berichtet. Der Junge erzählt von seiner Familie, seiner Zeit im Kloster der Söhne Marias, seiner Schulzeit und den Elefanten im Zoo. In diese Szenen bricht der Krieg zwar immer mal wieder ein, doch nicht mit grauenerregender Wucht, sondern lediglich als hinnehmbares Faktum, mit dem es sich zu arrangieren gilt. Dass ein Steinwurf eine Mine auslöst, ein Maschinengewehr unter dem väterlichen Bett lagert und die Kissen mit Granaten gestopft sind, ist nichts anderes als die Normalität. Der Ausnahmezustand als Alltag. „Jeder Garten ist jetzt ein Friedhof. Wenn du dir die Friedhöfe merkst, weißt du, auf welcher Seite und in welcher Straße du bist.“

Der „Kretin“ Viktor selbst ist ein Versehrter, doch das nicht durch den Krieg, sondern seit seiner Geburt. Durch eine angeborene Behinderung muss er ein Korsett tragen, die „Rückenspinne“. Und auch um ihn herum trägt alles den Makel der Lädierung. Der einbeinige Dschib bewegt sich in einem Einkaufswagen fort, mit einem Ruder steuernd. Eine Freundin des Jungen schlägt sich als Prostituierte durch. Und Viktors Hund Tango hat ein kaputtes rechtes Auge. Zugleich gewinnt diese Welt jedoch durch die Augen des Kindes etwas Magisches. Der Dschib hat in Viktors Augen „die Kraft von einem Zauberer“ und in einer Höhle wohnt eine Hexe, die allerlei Zauber durch das Wedeln mit Ästen wirkt.

Kordić, 1983 in Celle geboren und als Lektor des DuMont-Verlages tätig, gelingt es vortrefflich, sich den Duktus des Kindes anzueignen. Kurz sind die Sätze, aufs Wesentliche reduziert, ohne jeden Zierrat. Erzählzeiten kennt Viktor nicht, alles fließt im Präsens in eins: „Gestern finden wir das Baby in einem Gebüsch unten am Fluss. Einer legt es ab.“ Zugleich schreibt Viktor in seinem Heft alltägliche Notizen nieder. So macht er etwa Aufstellungen seines Hab und Guts, vom Taschenmesser bis zum Zauberwürfel, und listet die Tiere des Zoos auf. Ergänzt wird dieses Sammelsurium sporadisch durch kleine piktografische Zeichnungen wie die eines Wolfes oder eines Flusslaufes.

Eben dank dieser drastischen Reduktion gelingt es Kordić, das Grauen des Krieges greifbar werden zu lassen. Denn das Kind kann nur mit dem Blick aus der Ferne von Leid und Tod erzählen. Und erst durch Viktors Augen gewinnen diese eine ebenso bedrohliche wie erschreckende Nähe. Denn die Umwelt des Jungen zersplittert sich in „Kreuzer“, „Mudschis“ und „Bergmenschen“. Aus einstigen Freunden, Kameraden und Nachbarn werden im Krieg der Ethnien über Nacht Todfeinde – auch für den Jungen, ohne aber, dass ihm im Grunde die Gründe dafür klar wären. Selbst einer seiner Mitschüler wird so vor versammelter Klasse und auf offener Straße vom Lehrer gedemütigt.

Kordićs Blick durch die Augen Viktors ist mehr als geglückt: Mit erschütternder Wucht erzählt er vom Alltag im Krieg. Und zugleich wabert unter dieser Welt etwas Magisches, wie es nur die naiven Augen eines Kindes sehen können. „Wie ich mir das Glück vorstelle“ beantwortet die Titelfrage spielend – denn das Glück liegt in solchen Romanen.

Titelbild

Martin Kordic: Wie ich mir das Glück vorstelle. Roman.
mit Zeichnungen.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
176 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783446245297

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