Nicht ohne meinen Vater

Gertrud Kolmars Briefe in dritter „erweiterter und durchgesehener Ausgabe“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gertrud Kolmar zählt zu den bekanntesten und bedeutendsten deutschsprachigen LyrikerInnen ihrer Zeit. Bekannter noch als ihr Werk aber ist ihr schreckliches Ende. 1943 verschleppten die Nazis die Jüdin nach Auschwitz, wo sie – vermutlich unmittelbar nach der Ankunft – ermordet wurde. Sich ihrer jedoch nur oder vor allem von ihrem Ende her zu erinnern, wird weder ihrem Werk noch ihrem Leben gerecht. Es war ein Leben auch voller unbeschwerter Kindertage und einer hoffnungsfrohen, von der Suche nach sich selbst geprägten Jugendzeit. Ein Leben, so reich an Gefühlen, Hoffnungen, Leiden, Freuden, Liebe und Enttäuschungen, ein Leben so individuell, wertvoll und einzigartig wie das aller von den Nazis ermordeter Menschen – und eben eines jeden Menschen überhaupt. Dies alles auszulöschen, aus der Welt und aus der Erinnerung, war das Ziel des die Einzigartigkeit und Individualität der Menschen nivellierenden und negierenden Massenmords der Shoah. Die Bilder aufgeschichteter Berge nackter, ausgemergelter und entindividualisierte Leichen lassen zwar das Grauen deutlich werden, laufen aber Gefahr, die Entindividualisierung und Anonymisierung des Völkermordes nachgerade zu bestätigen und zu wiederholen. Dabei sollte jeder einzelne der Ermordeten in seiner Einzigartigkeit erinnert werden. Nicht immer ist das möglich. Oft, allzu oft wurden mit den Leben die Lebenszeugnisse der Hingemordeten vernichtet. Umso wertvoller sind diejenigen, die erhalten geblieben sind. Denn sie sind es, die die Toten noch einmal ins Leben treten lassen – vor dem inneren Auge der Lesenden wenigstens. Mehr aber ist nicht mehr möglich.

Zu den Lebenszeugnissen, denen dies gelingt, zählen die Briefe von Gertrud Kolmar, die nun in dritter, und wie zu hoffen ist, noch lange nicht letzter Ausgabe neu aufgelegt wurden. In ihnen berichtet die damals 46-Jährige noch 1940, ihr gegenwärtiger „Spätsommer des Lebens“ sei „so reich wie mein Frühling einst“ und schenke ihr sogar „mehr Glück“.

Der ganz überwiegende Teil der erhaltenen Korrespondenz richtet sich an ihre rechtzeitig ins Ausland geflüchtete Schwester Hilde Wenzel. Der Kontakt zu ihr wurde für die in Deutschland verbliebene Gertrud Kolmar zum Überlebenselixier. So bekannte sie der Jüngeren Ende 1941, „daß Du für Deine ältere Schwester – wenig schön ausgedrückt – ein ‚lebensnotwendiger Faktor‘ bist“.

Einige Jahre zuvor, im August 1938, hatte sie in einem der Briefe gescherzt, mit dem heutigen Johannisbeerpflücken „bei mächtiger Hitze“ habe sie für Palästina trainiert. Wie man weiß, gelangte sie nie dorthin. Auch nicht ins europäische Ausland, obgleich sich wohl durchaus Gelegenheit dazu geboten hätte. Doch mochte sie ihren Vater bis zum Ende nicht alleine zurücklassen. „Es war ja so geplant“, schreibt Kolmar Anfang 1939, „ich sollte zusehn, nach England zu kommen und dann versuchen, Vati auf irgendeine Art ‚nachzuholen‘“. Doch das lehnte sie ab und erklärte nachdrücklich, dass „auch für meine nächste Zukunft nur eine Gestaltung in Frage kommt, bei der die seine mitinbegriffen ist“. Die Möglichkeit zur Flucht scheint zumindest noch bis in den September des gleichen Jahres hinein bestanden zu haben. Ihr Entschluss, bei dem alten und stetig gebrechlicher werdenden Vater zu bleiben, war jedoch unumstößlich: „selbst wenn es mir möglich wäre, bald von hier fortzukommen (ausgeschlossen ist das nämlich nicht), so darf ich doch von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machen; denn ich kann und will Vati gerade jetzt nicht allein lassen“.

Bedauert, bei ihrem Vater geblieben zu sein, hat sie nie. In einem ihrer letzten Briefe vom Januar 1943, da hatte sie bereits die Nachricht vom Tod des kurz zuvor deportierten erhalten, schrieb sie, sie habe „eine positive, eine bejahende Einstellung zu allem Geschehen“, die anderen „unvorstellbar“ sei. Einen Monat später wurde sie selbst nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Kolmars Briefe lassen beispielhaft und deutlich vor Augen treten, dass die Nazis mit jedem einzelnen der zu Millionen so grausam und niederträchtig umgebrachten Menschen zugleich ein ganzes Universum voller Wünschen, Hoffnungen, Sehnsüchten, Freuden und Ängsten auslöschten. Auch darum sollten Bücher wie dieses immer wieder gedruckt und gelesen werden. Heute und in tausend Jahren.

Titelbild

Gertrud Kolmar: Briefe.
Herausgegeben von Johanna Woltmann. Durchgesehen von Johanna Egger und Regina Nörtemann.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
324 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835313972

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