Auszehrung und Legitimationsverlust

Kriegsbriefe und ein Tagebuch geben Einblick in die Lage der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt viele Weisen, ein Kriegsgeschehen nicht zu überschauen. Eine ist es, Soldat zu sein; eine andere, in der Heimat um die immer viel zu wenigen Kartoffeln anzustehen. Die Beteiligten sind stets mit dem Überleben beschäftigt. Der Gesamtablauf wird ihnen – wenn überhaupt – erst lange nach den Ereignissen bewusst.

Nicht nur deshalb sind Kriegsbriefe ein Genre, das für die Nachwelt wertvolle Einsichten bereithält. Noch sind die Wahrnehmungen nicht mit späteren Kenntnissen und späteren Diskussionen verwoben. Wer die Briefe schrieb, wusste noch nicht, „wie es ausgeht“. Lesen wir heute Briefe aus dem Ersten Weltkrieg, so haben wir einen direkteren Zugriff auf frühere Verhältnisse als durch spätere Äußerungen von Zeitzeugen.

Freilich muss man wissen, was möglicherweise nicht in den Briefen steht. Nicht nur wegen der Militärzensur (die im Ersten Weltkrieg noch nicht umfassend funktionierte) wurden manche Einzelheiten nicht geschrieben. Viele der Soldaten wollten ihre Verwandten oder Freunde nicht durch schreckliche Details in Unruhe versetzen; vielleicht hatten sie auch auf Heimaturlauben die Erfahrung gemacht, dass das Frontgeschehen Zivilisten nicht zu vermitteln war. Auch fehlte der Mehrzahl der Schreiber die sprachliche Fertigkeit, Erlebnisse und Empfindungen präzise zu formulieren. Für viele der Soldaten und auch der Daheimgebliebenen war der Weltkrieg ohnehin der erste Anlass, ausführliche Briefe zu schreiben.

Wer eine Sammlung solcher Briefe herausgibt, steht darum bei der Auswahl vor mehreren Fragen. Die frühesten Antworten zielten auf nationale Propaganda: Bereits während des Krieges erschienen zahlreiche Anthologien, die Frontkämpfer als Vorbilder fürs Weiterkämpfen hinstellt. Hohe Auflagen erlebten die von dem Freiburger Germanisten Philipp Witkop herausgegebenen „Kriegsbriefe deutscher Studenten“. Schon durch die Textauswahl stellte Witkop sicher, dass ein gewisses Maß an sprachlicher Sicherheit nicht unterschritten wurde.

Jens Eberts Briefanthologie „Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution“ unterscheidet sich in jeder Hinsicht von Witkops Studentenbriefen. Zunächst geht es natürlich nicht mehr um nationale Todeserbauung. Ebert hat Soldaten ausgesucht, die ganz unterschiedliche Haltungen zum Krieg einnehmen. Auf der einen Seite fehlen nicht die kampfbereiten Möchtegern-Helden; auf der anderen stehen sozialdemokratische Kriegsgegner, die sich weit links vom offiziellen Kurs ihrer Partei äußern. Einer von ihnen ist der 1916 gefallene Bremer Robert Pöhland, dessen Briefe an seine Frau die wohl sprachmächtigsten Äußerungen der Auswahl sind; der Kölner PapyRossa Verlag hat diese Korrespondenz bereits 2006 vollständig veröffentlicht.

Die große Mehrheit der Briefeschreiber gehört indessen auf keine dieser Seiten. Vielmehr geht es ihnen ums Überleben; an umfassende politische Konzepte denken sie nicht. Auf diese Weise wird deutlich, dass die beiden im Titel genannten Eckpunkte nur zum Behelf dienen. Die Auswahl bestätigt die seit einigen Jahren besonders von Lokalhistorikern herausgearbeitete Erkenntnis, dass das „Augusterlebnis“ vor allem eines der städtischen Oberschicht war und keineswegs die ganze Bevölkerung in einem Taumel der Begeisterung den Krieg feierte. Die meisten Soldaten und ihre Angehörigen nahmen den Kriegsbeginn hin, gehorchten der Obrigkeit und taten, was sie für ihre Pflicht hielten. Gerade die Konzentration darauf, wie der Alltag zu bewältigen ist, macht jedoch anschaulich, wie im Laufe der folgenden Jahre die Fähigkeit Deutschlands und des Habsburgerreichs, Krieg zu führen, zerbröselte. Mehr und mehr rückte die Frage in den Mittelpunkt, was es zu essen gab (und immer häufiger, was es gerade nicht gab). Je nach Versorgungslage wurden von der Heimat an die Front oder umgekehrt Lebensmittel geschickt und beide Seiten erfuhren, in welchem Maß sich die Lage verschlechterte. Die erschöpften Soldaten verstanden, wie wenig Unterstützung sie noch von der Heimat erwarten konnten, sie lasen sogar von Streiks und Hungerrevolten.

1918 war fast allen Beteiligten klar, dass der Krieg in dieser Lage nicht mehr zu gewinnen war. Es spricht für das Geschick der nationalistischen Propaganda in der Nachkriegszeit, später doch noch die Lüge von der im Felde unbesiegten Armee, der die Heimat in den Rücken gefallen sei, zu verbreiten. Durch seine Entscheidung, nicht allein Soldatenbriefe abzudrucken, sondern auch die andere Richtung der Kommunikation zu Wort kommen zu lassen, wird Ebert nicht allein der Tatsache gerecht, dass der moderne Krieg alle Bereiche einer Gesellschaft erfasst. Er macht auch anschaulich, wie eine stark militarisierte Gesellschaft allmählich die Kraft zur Kriegsführung verlor.

Das allerdings führte, wie Ebert in seinem Nachwort betont, keineswegs unmittelbar zur Novemberrevolution. Vielmehr waren zunächst Abstumpfung und Entkräftung das Resultat. Wahrscheinlich sind Revolutionen stets Sache einer entschlossenen Minderheit, der es gelingt, in einem Machtvakuum das Gesetz des Handelns zu bestimmen.

Als klug erweist sich die Auswahl der Personen, deren Briefe Ebert publiziert. Es sind alle Gesellschaftsgruppen vertreten – wobei die Rechtschreibung nicht korrigiert ist und gewisse Vorstellungen, wie gründlich früher die Schulbildung gewesen sei, widerlegt werden. Kaum überraschend ist, dass die Kriegsbefürwortung mit dem Bildungsstand steigt. Dies entspricht den Ergebnissen der Nationalismusforschung: Die Begeisterung für den Nationalstaat war nur in geringem Maße Sache der Armen. Über dieses Politische hinaus wird aber auch anschaulich, wie unterschiedlich sich die Beteiligten zu äußern vermochten. Ebert nimmt auch Briefe auf, deren Quellenwert auf der Ebene der Sache gering ist. Wenn aber ein Ersatzreservist auf vier Karten – bei geringfügig variiertem Wortlaut – lediglich mitteilt, dass es ihm gut gehe und er dies von den Seinen zuhause ebenfalls hoffe, dann ist auch dies sozialgeschichtlich interessant. Die Mehrzahl der Beteiligten war zu systematischen Gedanken über den Krieg nicht in der Lage.

Ebenfalls klug ist die Entscheidung, neben vielen Briefschreibern, die mit nur einem Text vertreten sind, einige Personen über längere Zeit zu begleiten. So verdeutlicht Ebert, wie sich Haltungen entwickeln und auch, wie sich Beziehungen zur Heimat mit der Dauer des Krieges verändern. Der Band, Resultat umfangreicher Archivarbeit und sorgsamer Zusammenstellung, gehört zu den wichtigsten aktuellen Publikationen zum Ersten Weltkrieg.

Dass das mangelnde sprachliche Vermögen, Ereignisse zu systematisieren, keineswegs mit einem Mangel an Anschaulichkeit einhergehen muss, verdeutlicht eine andere Edition. Sigrid Wisthaler hat das Kriegstagebuch des Tiroler Landsturmangehörigen Karl Außerhofer entziffert, kommentiert und mit einer ausführlichen Einleitung versehen. Außerhofer war zunächst zur Eisenbahnsicherung eingeteilt, musste sich jedoch immer wieder für Wochen und Monate am Gebirgskampf in den Dolomiten beteiligen.

Ein Kriegstagebuch dient vor allem als Erinnerungsstütze. Die Einträge können skizzenhaft, sogar für Außenstehende unverständlich sein und erfüllen trotzdem ihren Zweck. Das ohnehin schwere Gepäck legte es nahe, nur ein kleines Heftchen mitzuschleppen; auch waren die Bedingungen vielfach nicht dazu geeignet, ausführlich und in Ruhe zu beschreiben. So verlangen die Notizen dem Leser einiges an ergänzender Fantasie ab, um die Härten eines Kriegs im Hochgebirge nachzuvollziehen.

Tatsächlich spielen die Kämpfe in dem Tagebuch eine große Rolle; abgesehen von den ersten Monaten seines Dienstes hat Außerhofer fast nur während seiner Fronteinsätze geschrieben. Doch lässt sich über die strategische Lage hier gar nichts und über taktische Abläufe nur sehr bedingt etwas erfahren. Die militärgeschichtliche Bedeutung der Notizen ist erheblich geringer als die mentalitätsgeschichtliche.

Der durchaus wohlhabende Bauer Außerhofer ist in keiner Weise ein Staatsfeind. Er billigt den Krieg, er wünscht den Sieg seines Kaisers und ist bereit, dazu beizutragen. Allerdings fehlt hier (wie auch in der großen Mehrzahl der von Ebert edierten Briefe) der Hass auf den Feind. Außerhofer ist bereit, Mut und militärische Leistungen der Italiener anzuerkennen und sogar Mitleid gegenüber gegnerischen Soldaten zu empfinden, denen es nicht besser geht als ihm.

Die Hauptgegner sind andere: die eigenen Offiziere, die in der Mehrzahl als unchristlich wahrgenommen werden (sie fehlen bei der von Außerhofer, soweit möglich, sonntags besuchten Messe) und die autoritär und feige auftraten. Abgesehen von wenigen, lobend erwähnten Ausnahmen missachten sie ihre Untergebenen, treiben sie in vermeidbare Gefahren und zwingen sie zu sinnlosen Arbeiten.

Letzteres ist aus Sicht Außerhofers besonders schlimm. Vor Kriegsbeginn hat er einen Hof hochgebracht und war es gewohnt, seine Zeit zu nutzen. Nun ist er mit dem Problem konfrontiert, entweder Befehle auszuführen, deren Unsinn allen Beteiligten klar ist, oder gar ohne Beschäftigung herumzustehen. Das Tagebuch macht eine große Frage im Krieg anschaulich: Was machen Soldaten mit jener weit überwiegenden Zeitmenge, in der sie nicht kämpfen? Sie schlagen, anstelle des Feindes, die Zeit tot.

Es wird gesoffen, es wird gespielt: Außerhofer notiert fast nur Verluste und macht, wohl aus Langeweile, trotzdem immer weiter. Nur gegessen wird immer weniger. Schon 1916 ist die Versorgungslage so schlimm, dass die Kampfkraft beeinträchtigt ist. Sogar die deutschen Gebirgsjäger, die zur Unterstützung in den Dolomiten eingesetzt werden, haben weitaus mehr zu essen – fast so viel wie die eigenen Offiziere.

Am Ende ist jede Einsatzfreude dahin. Der Mangel hat die k.u.k.-Armee noch früher von innen aufgezehrt als die deutschen Truppen. Der konservative Bauer Außerhofer kennt, als er im Frühjahr 1918 demobilisiert wird, keine revolutionären Vorstellungen, doch hat er auch mit der noch herrschenden Ordnung nichts mehr zu schaffen. Wahrscheinlich hat, wenn ein kaiserlicher Staat sogar solche Leute demoralisiert, auch eine revolutionäre Minderheit gute Chancen.

Die Herausgeberin hat Außerhofers Leben recherchiert, Überlegungen zum Genre Kriegstagebuch angestellt und Informationen zum Kriegsverlauf in den Dolomiten gegeben, die etwas ausführlicher hätten ausfallen können. Insgesamt hat sie eine interessante Quelle erschlossen, die aufgrund ihres skizzenhaften Charakters kaum auf eine große Leserschaft hoffen kann, doch der Wissenschaft wichtige Informationen über die Wahrnehmung des Krieges auf den unteren Ebenen liefert. Eine solche Sicht von unten ist bedenkenswert; nicht, um irgendwem Gerechtigkeit widerfahren zu lassen (denn Geschichtsschreibung ist keine moralische Anstalt), sondern um machtanalytisch zu verstehen, wie Legitimität gewonnen oder auch verloren wird.

Titelbild

Sigrid Wisthaler: Karl Außerhofer. Das Kriegstagebuch eines Soldaten im Ersten Weltkrieg.
Herausgegeben von Hermann J. W. Kuprian.
Innsbruck University Press, Innsbruck 2010.
194 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783902571908

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Jens Ebert (Hg.): Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution. Briefe aus dem Weltkrieg 1914-1918.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
394 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835313903

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