Überspannte Ideale?

Heinrich Mann 1914

Von Wolfgang KleinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Klein

Als alles vorbei war, verfasste Romain Rolland – einer der wenigen Kriegsgegner der ersten Minute und seit seinem Artikel „Au-dessus de la mêlée“ (Über dem Getümmel) vom September 1914 sicher der bedeutendste – eine „Unabhängigkeitserklärung des Geistes“. „In Deutschland“, schrieb Rollands Vertrauter Georg Friedrich Nicolai am 20. April 1919 an Heinrich Mann, solle der Aufruf „nur von wenigen Unkompromittierten unterschrieben werden. Ich wollte Sie fragen, ob Sie Ihren Namen darunter setzen wollen.“ Bald war die Erklärung von zahlreichen europäischen Intellektuellen unterzeichnet (von anderen wurde sie entschieden bekämpft). Aber unter der ersten Veröffentlichung standen nur fünf Namen von Deutschen: von Albert Einstein, Hermann Hesse, dem Historiker Max Lehmann, Nicolai und Heinrich Mann.

Zwanzig Jahre zuvor war das nicht absehbar gewesen. Da kannte man den Publizisten Heinrich Mann (soweit überhaupt Notiz von ihm genommen wurde) als den vorübergehenden Herausgeber einer bekennend deutsch-völkischen, reaktionären und antisemitischen Zeitschrift mit vorausgreifendem Titel: Das Zwanzigste Jahrhundert. Darin hatte er unter anderem über „Kriegs- und Friedensmoral“ geschrieben. Frankreich und Russland hatten gerade erste Schritte unternommen, sich ökonomisch, militärisch und politisch zu verbünden – die Entente begann sich zu bilden, gegen die Deutschland und Österreich-Ungarn dann den Weltkrieg und ihre Staatsform verloren. Der junge Mann warnte: „Schon wird ganz Europa überall auf seinen Wegen belästigt durch den wirthschaftlichen Einfluss außereuropäischer Länder, die zum Theil kaum civilisirt, unter ganz ungleichen Bedingungen produziren. Um seinen Vorrang erhalten, seine Interessensphären behaupten und erweitern zu können, wird Europa sich auf die Dauer solidarisch erklären müssen.“ Gegen „jenes unnatürliche Bündniß zwischen der Republik und dem Absolutismus“ war die Perspektive deutlich benannt: „Erst wenn sich keine der westlichen Kulturmächte mehr zu seiner [Rußlands] Stütze hergiebt, wenn Europa als geschlossenes Ganzes dasteht, dann wird die heute thatsächlich bestehende Vorherrschaft der Knute, die Uebergewalt einer unbezähmbaren, der westlichen Kultur ganz unzugänglichen Völkermasse, gebrochen sein.“ Wir schreiben 1895, nicht 2014. Damals trieb Heinrich Mann in seitenlangen Spiralen die Polemik gegen jede „Friedensmoral“ und Abrüstung noch unverblümt bis zum Lobpreis des Krieges: „Wie? Der Krieg, der stets das Ganze zu erhalten bestimmt ist, sollte ein Verbrechen sein, weil er einzelne Leben vernichtet? […] Gewiß ist er brutal, doch so, wie die Wahrheit brutal ist. Sieht man denn nicht (was doch unsere Väter wußten), daß er trotz allem den Menschen mit einem Ideal krönt, das ohne ihn nicht von dieser Welt wäre?“

Bald darauf erkannte dieser Antihumanist, dass er mit einer solchen Art, die Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich und die Union Europas zu begründen, „am Rande des Blödsinns“ operiert hatte. Sein Bruder Thomas, dem er das schrieb, ließ noch im Herbst 1918 drucken und verbreiten, dass „Deutschlands ganze Tugend und Schönheit“ sich „erst im Kriege“ entfalte – politisch im Einvernehmen mit denen, die (keineswegs als „Schlafwandler“, wie inzwischen gelegentlich zu hören ist) am Krieg interessiert gewesen waren, ihn für natürlich gehalten, zu ihm getrieben und ihn geführt hatten. Heinrich Mann verallgemeinerte 1905 Flauberts Erleben des vorausgegangenen Krieges 1870/71: „Der Krieg ist eine Schande, unter der ein Kulturmensch erbebt.“ Und er zitierte den französischen Kollegen: „Was mir das Herz bricht, ist erstens die tierische Wildheit der Menschheit; zweitens die Überzeugung, daß wir in eine stumpfsinnige Ära eintreten. Man wird utilitaristisch, militärisch, amerikanisch und katholisch sein! […] Der Krieg mit Preußen beendet die französische Revolution und zerstört sie.“ Zehn Jahre später, in dem großen Essay über Zola, erläuterte er ausführlich und apodiktisch: „Gewalttätige Reiche, sie mögen hinsinken.“ Als Thomas Mann im Januar 1918 den Versuch einer Versöhnung nach Jahren des Schweigens ausschlug, weil er „Triumph“ atme, „wie sonst Alles für Dich steht und liegt“, antwortete der Ältere: „Triumph worüber? Dass alles gut für mich ‚steht und liegt’, nämlich die Welt in Trümmern u. 10 Millionen Leichen unter der Erde. […] Ich glaube nicht, dass der Sieg irgend einer Sache noch der Rede wert ist, wo wir Menschen untergehen.“

Heinrich Manns Bewusstsein der radikalen und prinzipiellen Unmenschlichkeit des Krieges war im Sommer 1914 im Wortsinn außerordentlich – fast alle ließen sich verführen von den Auffassungen, die er mit den anderen Präfaschisten formuliert hatte, als er 24 war. Auch außerhalb Deutschlands klang es nur in Nuancen anders – wenn sich etwa die Imperialisten und die Sozialisten in Frankreich auf die Ideologie der Jakobiner aus den Revolutionskriegen beriefen, um ihr Vorgehen als Vaterlandsverteidigung zu adeln. Seine wahre Größe hatte Heinrich Manns Widerstehen aber eigentlich zehn Jahre zuvor erwiesen – als er mitten in der Belle Epoque, der guten alten Zeit, an den Abscheu Flauberts vor dem Krieg erinnerte. Wird der Krieg erlebt, ist seine Barbarei unübersehbar, denn die Menschen sterben und was sie sich schufen wird zerstört. Stirbt die Kriegsgeneration aber aus, greifen Vergessen und Verdrängen um sich. Nicht nur vor 1914 war das zu beobachten. 1945 wurde Deutschland, mit anderem, von der Auffassung befreit, dass Krieg ein Mittel der Politik sei. Lange wusste man hierzulande in den sozialen Bewegungen, aber auch in den aufrüstenden Regierungen, dass Krieg nicht geführt werden darf. Inzwischen gewinnt der Gedanke wieder Einfluss, dass es nicht zukunftsweisend, sondern altmodisch und ängstlich sei, so zu handeln. Und so suchen die in Deutschland Mächtigen es ihren Verbündeten wieder gleich zu tun, statt sie von ihrem zivilisatorischen Vorsprung zu überzeugen. Man schwingt sich wieder leichtherziger in den Sattel, um „Interessensphären behaupten und erweitern zu können“, – weiter gerne auf die Knute und das „kaum Civilisirte“ im Zielgebiet verweisend. Was von solchen Rechtfertigungen ernstlich zu halten ist, zeigte sich, als in Ruanda 1994 die Interessen fehlten: die Intervention gegen den Völkermord blieb aus.

Der Krieg war 1914 noch nicht erklärt, als die Redaktion der Münchner Wochenschrift, in der Heinrich Manns Roman Der Untertan im Vorabdruck erschien, sich „in einer redaktionellen Bedrängnis vertrauensvoll“ an den Autor wandte: „Im gegenwärtigen Augenblick kann ein grosses öffentliches Organ nicht in satirischer Form an deutschen Verhältnissen Kritik üben.“ Eine Zeitschrift in Sankt Petersburg (das nun Petrograd genannt wurde) sah keinen Anlass, den Fortsetzungsdruck zu unterbrechen, und als Buch kam Heinrich Manns neuester Roman 1915 ebenfalls erstmals auf Russisch heraus – wie angenommen werden darf, als Teil der dortigen Kriegspropaganda. In Deutschland jedoch wurde im ersten Kriegsjahr kein Text dieses zuvor durchaus gefragten Autors veröffentlicht. Erst einführende Worte zu einer Lesung aus dem noch unvollendeten Essay über Zola im Juni 1915 erreichten wieder deutsche Leser – in der kleinen Zeitschrift Das Forum, die sein Freund Wilhelm Herzog herausgab. Mit der folgenden Nummer wurde das Blatt verboten: wegen „der Propagierung eines vaterlandslosen Ästheten- oder Europäertums“, die „an den Tatbestand des Landesverrats“ grenze. Heinrich Mann hatte dazu beigetragen, mit Sätzen wie: „Ich weiß, man unterscheidet jetzt eine ausschließlich deutsche Kultur von der allgemeinen. […] Europa hat kein Beispiel gesehen, daß die Macht allein, die Macht um der Macht willen, die menschenverächterische Macht und ihre Anbetung durch ein bestens organisiertes, restlos tüchtiges, aber untertäniges, aber revolteloses, und darum sich verflachendes Volk selbständig Kultur gebildet hätte.“

Untätig war Heinrich Mann nicht, als er zum Schweigen verurteilt werden sollte. Ein anderer ihm Nahestehender, Kurt Hiller, notierte nach fünf Wochen Krieg in seinem Tagebuch: „Heinrich Mann las einen Aufsatz vor, den er in letzter Zeit geschrieben hat. Außerordentlich. Voll Inbrunst … Und doch, was hilft’s? Sie müssen in der Lade verschlossen bleiben.“ Handelte es sich dabei vielleicht um das einzige Manuskript, das von diesem Autor aus den Wochen überliefert ist, in denen der Krieg begann? Es wird sich nicht mehr feststellen lassen. In dem Text, der in einem entfernten Archiv in der Schweiz fast hundert Jahre überdauert hat, räsoniert ein „gebildeter Bürger“ nach dem Attentat von Sarajewo: „Ob einer abgemurkst wird und ein Anderer den Thron seiner Väter besteigt, das ist, von Stimmungsschwankungen an der Börse abgesehen, für die Geschäfte ganz gleich. Gebildete Menschen wissen außerdem, dass die Existenz eines Monarchen vor der reinen Vernunft nicht ohne weiteres Stand hält. Er ist von Gottes Gnaden, schön, man soll nichts sagen gegen die Religion, sie muss dem Volke erhalten bleiben. Aber vernunftgemäss ist es selbstverständlich nicht. […] Wir gebildeten Deutschen haben erkannt, dass man durchaus nicht immer fordern soll, was vernünftig u. gerecht wäre, oder was gewissen Begriffen entspräche, von menschlicher Würde, geistiger Reinlichkeit. Stellt man an die Spitze eines Staatswesens die Vernunft, wohin führt sie denn das Staatswesen? […] Dadurch ist Allem, was Menschen an überspannten Idealen nur haben können, Thür u. Fenster geöffnet. Herein, Gerechtigkeit! Herein, Wahrheit! Herein Gleichheit und Brüderlichkeit, will sagen das Ende der Welt!“

Sarkasmus bleibt, wenn sich nichts ändern lässt. Zumindest verdeutlicht er, dass es nicht überspannt, sondern den Menschen gemäß wäre, wenn vernünftige und gerechte  Ideale, wenn (um Heinrich Manns Wort für „Moral“ aufzunehmen) Sittlichkeit die Politik bestimmten. Noch immer ist allerdings eher zu beobachten, dass der Realpolitik Verfallene Geister, die das anstreben, als „Idealisten“ brandmarken.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist eine Vorabpublikation aus „Das Blättchen, Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft“ (17. Jahrgang, 2. Sonderausgabe 2014). Wir danken dem Verfasser und den Herausgebern der Zeitschrift für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.