Eine andere Tradition des Darwinismus

Vor neunzig Jahren erschien Georg Friedrich Nicolais kultur- und evolutionsgeschichtliches Buch "Die Biologie des Krieges"

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Rückgriffe auf Charles Darwin und die Biologie stoßen in den Sozial- und Kulturwissenschaften nach wie vor auf erhebliche Aversionen. Und dafür gibt es viele gute und ernst zu nehmende Gründe. Denn was unter Berufung auf die angebliche Natur des Menschen und auf evolutionsbiologische Vorstellungen über Prinzipien natürlicher Auslese an sozialpolitischen Ansichten und Praktiken gerechtfertigt wurde, hatte im 20. Jahrhundert mörderische Konsequenzen. Noch heute generiert es oft haarsträubende Vorstellungen. Die Etikette "darwinistisch" und "biologistisch" im Vokabular alter Ideologiekritik mögen inzwischen reichlich abgenutzt erscheinen, die mit ihnen bezeichneten Phänomene haben sich jedoch nicht erledigt.

Über die wissenschaftlichen, kulturhistorischen oder politischen Folgen, Implikationen und Erkenntnispotentiale von Darwins Evolutionstheorie zeigt sich die Kritik am Darwinismus und Biologismus allerdings meist unzulänglich informiert. Erinnert sei daher an ein vor neunzig Jahren erschienenes Buch, das auf eine andere Tradition der Darwin-Rezeption verweist, die kaum bekannt ist.

Im Frühjahr 1917, mitten im Ersten Weltkrieg, veröffentlichte der Verlag Orell Füssli in der neutralen Schweiz "Die Biologie des Krieges. Betrachtungen eines Naturforschers den Deutschen zur Besinnung". Der Naturforscher war Georg Friedrich Nicolai (eigentlich Lewinstein), Mediziner, Physiologe und unter den deutschen Professoren damals ein selten anzutreffender Typus. Denn er engagierte sich als Pazifist. Als im August 1914 fast die gesamte deutsche Intelligenz der patriotischen Kriegseuphorie anheim fiel, gehörte Nicolai zu den wenigen, die sich diesem Massenrausch fernhielten. Berüchtigt machten sich seine Kollegen als Unterzeichner jenes "Aufrufs der Dreiundneunzig", der in den ersten Oktobertagen 1914 mit heroisch-pathetischer Geste den Überfall auf Belgien und den deutschen Militarismus im Namen der "Kultur" rechtfertigte. Die Liste der Unterzeichner liest sich wie ein Verzeichnis der damaligen wissenschaftlichen (und auch künstlerischen) Prominenz. Nicolai verfasste sofort ein Gegenmanifest, einen "Aufruf an die Europäer", und kein Geringerer als Albert Einstein war bereit, mit zu unterzeichnen. Das Bemühen um weitere Gleichgesinnte blieb jedoch ohne ausreichenden Erfolg. Der Gegenaufruf blieb zunächst unveröffentlicht und erschien erst 1917 - in der Einleitung zu dem Buch, das vor allem Nicolais Bedeutung ausmacht.

Dieser damals nahezu singuläre Versuch, die verbreiteten Ideologien zur Rechtfertigung des Krieges mit naturwissenschaftlichen Argumenten zu widerlegen, hat eine wahrhaft abenteuerliche Erscheinungsgeschichte: eine Geschichte von behördlichen Nachstellungen, Verboten, Schikanen und Verhaftungen auf der einen Seite und von ungebrochenem Widerstandsgeist, mutiger Renitenz und Frechheit auf der anderen.

Als Nicolai im Frühjahr 1915 ein Kolleg mit dem verdächtigen Titel "Der Krieg als biologischer Faktor in der menschlichen Evolution" hielt, wurde er in die Provinz versetzt. Die Notizen zu dem verbotenen Kolleg arbeitete er noch im gleichen Jahr zu einem Buch aus. Dafür einen Verleger zu finden, war in dem von der Kriegszensur kontrollierten Deutschland freilich so gut wie unmöglich. Ein kleines Wunder war es schon, dass einzelne Kapitel in der expressionistischen Zeitschrift "Die Aktion" erscheinen konnten, einem der wenigen oppositionellen Blätter, die Dank der geschickten publizistischen Strategie ihres Herausgebers Franz Pfemfert die Zensur überlebt hatten.

Nicolai gelang es, einen Gesinnungsfreund zum Druck des Buches zu überreden. Die Polizei beschlagnahmte die fertigen Druckbögen, doch mehrere Exemplare des Manuskripts waren schon im Umlauf. Der expressionistische Dichter und Kriegsgegner Leonhard Frank brachte es über die Grenze in die Schweiz und bot es dort einem renommierten Züricher Verlag an.

Das Erscheinen der "Biologie des Krieges" war eine Sensation, die erste Auflage schon vergriffen, bevor der Verfasser überhaupt ein Exemplar zu Gesicht bekam: Die Besprechungen (außerhalb Deutschlands) überboten sich mit Superlativen, Übersetzungen ins Dänische, Schwedische und Englische wurden vorbereitet, und Ausgaben in vielen anderen Sprachen sollten noch folgen. Romain Rolland, damals die Schlüsselfigur des internationalen Pazifismus, nannte Nicolai "Le Grand Européen" und schrieb das Vorwort zur zweiten Auflage. Anatole France machte auf der Rückreise von Stockholm, wo er den Literaturnobelpreis erhalten hatte, in Berlin halt, um "zwei große Deutsche" kennen zu lernen: Einstein und Nicolai.

Worin lagen der Wert und die Originalität dieser Schrift, die ihren Verfasser im Ausland zu einem der geachtetsten Wissenschaftler Deutschlands werden ließ? Mit einer erstaunlichen Fülle von faszinierenden empirischen Einzelheiten, einer universalen Bildung und mit ideenreichen Argumenten stritt sie gegen eine Ideologie, die damals (übrigens keineswegs nur in Deutschland) in den Köpfen und Gemütern breiter Bevölkerungsschichten tief verwurzelt war: gegen den auf die menschliche Gesellschaft übertragenen Vulgärdarwinismus, dem der Krieg (wie auch die Wirtschaft) als ein biologisch produktiver Kampf ums Dasein erschien, in dem die 'wertvolleren' Rassen, Nationen und Menschen den Sieg davontragen. Die biologische Argumentation steht im Zentrum des Buches, gleichwohl geht es über sie beträchtlich hinaus. Die wahrhaft universale Bildung erlaubte es dem Wissenschaftler, sich auch fundiert mit dem auseinanderzusetzen, was Theologen und Philosophen, Juristen oder Volkswirtschaftler, Dichter oder Künstler damals zum Krieg sagten und bis dahin gesagt hatten. Das so geist- wie faktenreiche und darüber hinaus glänzend geschriebene Buch ist damit auch ein kulturgeschichtliches Werk von Rang. Evolutionsbiologische und kulturgeschichtliche Perspektiven verbinden sich hier auf erhellende Weise.

Nicolai erklärte den Militarismus und den Krieg zur "evolutionären Sackgasse", als ein Musterbeispiel irregeleiteter Technik und falscher Verwendung von Energiequellen, als soziale Krankheit, als Ursache und Folge von Fehlentwicklungen der nationalkollektiven wie individuellen Psyche. Den evolutionsgeschichtlich anachronistisch gewordenen aggressiven Instinkten stellte er die wachsende Bedeutung der sozialen gegenüber, dem "Kampf ums Dasein", unter Berufung auf den russischen Gelehrten und Anarchisten Peter Kropotkin, das "Prinzip der gegenseitigen Hilfe", dem Nationalismus die Idee der Völkerverständigung und europäischen Gemeinschaft. Kropotkin hatte 1902 in seinem Buch "Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt" von seinen Reisen in Sibirien berichtet, auf denen er beim besten Willen "nicht jenen erbitterten Kampf um die Existenzmittel zwischen Tieren, die zur gleichen Art gehören, entdecken" konnte. Darwin nahm er hier vor den "meisten Darwinisten" in Schutz, die den "survival of the fittest" zum "Hauptfaktor der Entwicklung" erklärten, und hielt ihnen die Beobachtung entgegen, dass die "gegenseitige Hilfe ein wichtiges progressives Element der Evolution darstellt." Ein Jahr nach der "Biologie des Krieges" veröffentlichte Nicolais Kollege, der Biologe Oscar Hertwig, als ein Schüler Ernst Haeckels akademisch ebenfalls im Umfeld von Darwins Lehren sozialisiert, seine Schrift "Zur Abkehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus" (siehe literaturkritik.de 9-2004).

Während die expressionistischen Aktivisten in ihren lautstarken Manifesten für den Frieden und die Menschheitsverbrüderung viel an Enthusiasmus und Gefühl appellierten, versuchte Nicolai mit nüchterner Wissenschaftlichkeit empirisch-argumentativ sein Konzept einer übernationalen Gemeinschaft zu begründen. Und während die Kriegsgegnerschaft der Schriftsteller (wie auch schon die vorangegangene Kriegseuphorie) von einem starken Affekt gegen die moderne Zivilisation getragen war, hielt Nicolai den Krieg für einen die Errungenschaft der Zivilisation bedrohenden Rückfall in die Barbarei. Nicolais Pazifismus beruhte auf einem geradezu überschwänglichen Glauben an die wissenschaftliche Vernunft, an die Qualitäten des technischen Fortschritts und der Zivilisierung der Affekte.

Bei aller Bewunderung, die diese Persönlichkeit und ihre Leistungen noch heute verdienen: unproblematisch waren sie nicht. In seinem Enthusiasmus für die westliche Zivilisation setzte er an die Stelle der nationalen eine ganz und gar eurozentrische Perspektive. Und sein wahrhaft exzentrischer Charakter war voller Widersprüche. Dieser Dandy, Don Juan und Lebemann war ein Sozialist, der auf seine eigenen Privilegien nicht verzichten mochte, ein Friedensforscher, der sich selbst wenig friedfertig zeigte. Er liebte den spektakulären Auftritt, und unter den Skandalen, in die er zeitlebens verwickelt war, litt er weniger, als dass er sie suchte.

Nach Stationen in Argentinien, Russland und Spanien endete sein Lebensweg in Chile, wo er 1965 im Alter von neunzig Jahren starb. In Deutschland fast schon vergessen, war Nicolai in Südamerika zu einer legendären Persönlichkeit geworden. In den 1980er Jahren wurden in Deutschland Versuche zu seiner Wiederentdeckung unternommen. Ein Schüler von Karl Jaspers und Ernst Robert Curtius, Wolf Zuelzer, der seit 1935 als Mediziner in den Vereinigten Staaten arbeitete, veröffentlichte über ihn 1981 eine kongeniale Biografie. Zwei Jahre später erschien "Die Biologie des Krieges" in neuer, dritter Auflage. Beide Bücher sind schon lange vergriffen.

Bibliographische Hinweise:

Wolf Zuelzer: Der Fall Nicolai. Societäts-Verlag, Frankfurt a. M. 1981.

Georg Fr. Nicolai: Die Biologie des Krieges. Betrachtungen eines Naturforschers den Deutschen zur Besinnung. Bd. I u. II. Einführung von Wolf W. Zuelzer. Verlag Darmstädter Blätter, Darmstadt 1983.