Wir gebildeten Bürger

München 2. Juli 1914

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Vorbemerkung der Redaktion: Der folgende Text Heinrich Manns vom 2. Juli 1914 (vgl. den Beitrag von Wolfgang Klein in literaturkritik.de 7/2014) wurde erstmals veröffentlicht in Heinrich Mann: Essays und Publizistik. Kritische Gesamtausgabe. Band 2: Oktober 1904 bis Oktober 1918. Herausgegeben von Manfred Hahn unter Mitarbeit von Anne Flierl und Wolfgang Klein. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2012. Wir danken dem S. Fischer Verlag für die freundlichen Genehmigungen zur Veröffentlichung des Textes sowie den Herausgebern und dem Aisthesis Verlag für die freundlichen Genehmigungen zur geringfügig  veränderten Übernahme der editorischen Bearbeitung und der  Kommentare.

Wir gebildeten Bürger

sind nicht wie unsere Grossväter, die auf Barrikaden standen[1] und eine ausgesprochene Abneigung sowohl gegen die Kirche wie gegen die Monarchie betätigten. Nicht einmal auf das Eigentum, das doch heilig ist, nahmen sie die gebotene Rücksicht, sondern verbündeten sich im Namen einer Vorstellung, die sie Freiheit nannten, mit den gefährlichsten Elementen. Der Begriff Tyrannenmord, man denke, war unseren Grossvätern ganz geläufig, so geläufig wie unseren Vätern die Niederwerfung des Erbfeindes[2], oder uns selbst die Zuchthausvorlage[3] … Wir machen in Wirklichkeit keine Zuchthausvorlage, u. unsere Grossväter haben keinen einzigen Tyrannen umgebracht. Denn sie hatten schliesslich auch schon unsere zurückhaltende, mehr auf die innere Freiheit Goethes gerichtete Natur. Immerhin, wenn ihre Zeitgenossen in Italien so einen Tyrannen erdolchten[4], dann wunderten unsere Grossväter sich durchaus nicht, sie sahen das Vorkommnis wohl gar als Errungenschaft an u. sagten Bravo! Diesen Bravos gegenüber müssen wir denn doch mit aller Entschiedenheit betonen, dass ein Mord an einem Thronfolger natürlich nur von ganz üblen Fanatikern begangen werden kann, die wahrscheinlich krankhaft veranlagt sind – oder, sollten es dafür zu viele sein, dann ist es eben eine zurückgebliebene Völkerschaft. Diese ist sichtlich, was die politischen Anschauungen betrifft, noch in der Biedermeier-Naivität unserer Grossväter befangen und glaubt durch die gewaltsame Beseitigung eines ihr nicht genehmen Herrn dem Naturgeschehen in die Speichen fallen zu können. Dagegen haben schon unsere Väter wissenschaftlich nachgewiesen, dass die Entwicklung, im Völkerleben wie überall, sich von selbst vollzieht, u. dass wir, Gott sei Dank, uns nicht anstrengen müssen, damit die Welt vorwärts kommt; höchstens dass man sie zurückhalten muss, wer an Schwindel leidet, weil es sonst gefährlich wird. Dafür aber haben wir die Monarchie. 

Thun kann ein Monarch natürlich nichts. Was will denn ein einzelner Mensch – Fürsten sind Menschen – thun gegen die millionenfältigen Kräfte, die untereinander Kämpfe ausmachen, deren Entscheidungen er einfach sanktionieren darf. Ob Einer abgemurkst wird und ein Anderer den Thron seiner Väter besteigt, das ist, von Stimmungsschwankungen der Börse abgesehen, für die Geschäfte ganz gleich. Gebildete Menschen wissen ausserdem, dass die Existenz eines Monarchen vor der reinen Vernunft nicht ohne weiteres Stand hält. Er ist von Gottes Gnaden, schön, man soll nichts sagen gegen die Religion, sie muss dem Volke erhalten[5] bleiben. Aber vernunftgemäss ist es selbstverständlich nicht, dass ein Mensch vor allen Andern zu viele Rechte hat, die er nicht erworben hat und die eigentlich schon lange uns selbst gehören. Da sieht man nun aber, wozu ein abgeklärtes, ruhiges Denken gut ist; denn grade weil wir Gebildeten den Monarchen als eine lediglich konventionelle Erscheinung hinnehmen, der sozusagen ein Symbol, aber kein verantwortliches Individuum ist, darum kränkt uns auch nicht leicht etwas von ihm; und wenn er aufgeregte Reden hält, mögen sie mit der Weltanschauung der Gebildeten auch manchmal schwer verträglich sein, dann gehen wir einfach aus dem Wege u. denken (denken darf man!): Gott, der Mann will leben. 

Sagen Sie bitte nicht, das sei Faulheit, oder noch Schlimmeres, was ich Ihnen nicht erst aus dem Munde nehmen will. Es ist ganz etwas Anderes, es ist politische Reife! Wir gebildeten Deutschen haben erkannt, dass man durchaus nicht immer fordern soll, was vernünftig u. gerecht wäre, oder was gewissen Begriffen entspräche, von menschlicher Würde, geistiger Reinlichkeit. Stellt man an die Spitze eines Staatswesens die Vernunft, wohin führt sie denn das Staatswesen? Man blicke nach Frankreich! Sie führt es dahin, dass die Besitzenden u. Gebildeten nicht mehr ein und aus wissen vor dem Ansturm der Demokratie, dass man die Leute kaum noch dazu bringt, das Heer zu erhalten, dies einzige Bollwerk gegen den Umsturz; und dass die Kinder immer weniger[6] werden. Die Republik ist an sich gewiss eine anständige Staatsform, ich bin frei von Vorurtheilen. In einer Republik lässt sich auch ganz schön verdienen, das Leben ist vielleicht sogar angenehmer, besonders was die Sittlichkeit betrifft, u. ihre Polizei soll nicht schlecht sein. Das Schlimme ist nur: in einer Republik ist die Autorität abgeschafft, nämlich die wahre, vernunftwidrige Autorität, die sich bloss auf Gott beruft. (Ich bin dafür, dass es ihn giebt!). Und dadurch ist Allem, was Menschen an überspannten Idealen nur haben können, Thür u. Fenster geöffnet. Herein, Gerechtigkeit! Herein, Wahrheit! Herein Gleichheit und Brüderlichkeit, will sagen das Ende der Welt! Wäre sie [zwei Worte unleserlich] Kapitalismus [ein Wort unleserlich], die Republik hat offiziell die Herrschaft der Vernunft anerkannt und läuft daher Gefahr, einmal zu einer wirklichen humanitären Demokratie zu werden. Die Monarchie nie! Dies ist ihr felsenfester Ruhmestitel. Die unvernünftige Gewalt, die hier den Gipfel bildet, versorgt den ganzen Staat, bis in die feinsten Adern, mit Unvernunft u. mit Gewalt, und ohne diese beiden ist nun einmal nichts zu wollen in menschlichen Dingen; darüber sind wir einig. Wenn ich in einem Conflikt mit meinen Arbeitern von meinen Machtmitteln fest Gebrauch mache und die Bande klein kriege, dann weiss ich ganz genau, welche höhere Autorität hinter der meinen steht und sie rechtfertigt. Aber ein französischer Arbeitgeber, worauf beruft sich der? Seine Überlegenheit ist bestenfalls momentan, das Prinzip seines Staates ist gegen ihn. So lässt sich nicht lange leben … Nur Sozialdemokraten sagen, die Staatsform sei gleichgültig. Von ihr hängt die ganze öffentliche Moral ab, alle Beziehungen der Klassen, und die Zukunft der Gesamtheit. Wir wollen ein gutes Gewissen haben, wenn wir in der Geltendmachung unserer Interessen mal weiter gehen als Theoretikern richtig scheint, oder wenn wir mehr oder weniger glatt hinwegkommen über gewisse Geschehnisse im Staat, gegen die vorgeblich unsere Vernunft u. Selbstachtung sich auflehnen sollten. Lehne Dich nicht auf, dann darf auch gegen Dich sich keiner auflehnen! Erkenne im Monarchen die Gültigkeit des Unvernünftigen, u. Du selbst hast nichts zu fürchten von der Vernunft! Darum sind wir Gebildeten Monarchisten, Vernunftmonarchisten, wie man sagt; und sooft irgendwo ein Fürst nicht natürlich stirbt, berührt es uns peinlich.

Entstehungs- und Textgeschichte

Die überlieferte Handschrift, eine stark überarbeitete erste Niederschrift, ist am Ende „München 2. Juli 1914“ datiert und „Heinrich Mann“ gezeichnet; der Beginn des ersten Satzes ist gleichsam als Titel in größerer Schrift und unterstrichen auf die Seitenmitte gesetzt. Ein Druck konnte nicht ermittelt werden, war aber vermutlich vorgesehen; dafür spricht, daß die erste Niederschrift vollständig ausgearbeitet, datiert und signiert ist. Der Anlaß für den sarkastischen Text waren wahrscheinlich Reaktionen auf die Erschießung des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand (geb. 1863) am 28. Juni 1914 in Sarajevo. Es kann angenommen werden, daß die weitere politische Entwicklung im Juli 1914 den Druck eines Textes von dieser Tonart verhinderte.

Erläuterungen

[1] Anspielung auf die Ereignisse von 1848/49; Heinrich Mann hatte in dem im Juli 1914 beendeten Roman „Der Untertan“ einen dieser „Großväter“ in der Figur des alten Buck dargestellt.

[2] Frankreich.

[3] Am 20. Juni 1899 brachte die Regierung Hohenlohe-Schillingsfürst einen Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“ in den Reichstag ein: Für die Vorbereitung und Durchführung von Streiks wurden hohe Geldstrafen, für Streikende und Streikbruch Verhindernde u. a. Gefängnis- und Zuchthaushaft bis zu fünf Jahren angedroht. Von der Sozialdemokratie organisierte Protestversammlungen in fast allen Orten Deutschlands mit mehr als 300 000 Teilnehmern, Proteste auch von christlichen Gewerkschaften und bekannten liberalen bürgerlichen Politikern und Wissenschaftlern führten am 20. November 1899 zur Ablehnung der „Zuchthausvorlage“ im Reichstag.

[4] Gemeint ist sehr wahrscheinlich Pellegrino Rossi (1787-1848), der nach einer bemerkenswerten akademischen Karriere als Jurist und Politökonom in Italien und Frankreich von 1845 bis zum Juli 1848 französischer Botschafter beim Kirchenstaat geworden war, im September 1848 zum Innen- und faktisch Premierminister der Regierung des Kirchenstaats berufen wurde und als moderater Konservativer bezeichnet werden kann. Am 15. November 1848 wurde Rossi von einem Republikaner ermordet. Papst Pius IX. (1792-1878) floh daraufhin aus Rom, und am 9. Februar 1849 wurde die Römische Republik errichtet, die jedoch schon im Juli 1849 durch das Eingreifen französischer Truppen gestürzt wurde. – Im Oktober 1935 erwog Heinrich Mann, eine gleichgerichtete Bemerkung zu dem zeitgenössischen Mord an dem diktatorisch regierenden Gouverneur von Louisiana an den Anfang eines Artikels zu stellen; die Redakteure der angesprochenen Presseorgane verweigerten jedoch die Veröffentlichung.

[5] Am 19. Juli 1913 war in Frankreich nach scharfen innenpolitischen Auseinandersetzungen die Wehrpflicht von zwei auf drei Jahre erhöht worden.

[6] Die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts stark zurückgehende und nur noch zwei Drittel der deutschen betragende Geburtenrate in Frankreich bildete, propagandistisch mit der Niederlage Frankreichs im Krieg gegen Deutschland 1870/71 verbunden, in der Öffentlichkeit beider Länder eines der meistbeachteten Argumente für den Niedergang Frankreichs. In seinem Notizbuch 1916 hielt Heinrich Mann während der Schlacht um Verdun dazu fest: „Heute, da das lebende Frankreich seinem weit stärkeren Feind gewachsen bleibt einzig u. allein durch die sittliche Qualität seiner Bürger: heute wagt ein Schwein, ihm das Quantum entgegenzuhalten, u. für das Entscheidende nach dem Krieg die menschliche Kaninchenzucht zu erklären, das unwissende Massenfutter für Lügen u. für Kanonen! / = Da ihm das Leben abhanden komme, verbünde Frankreich sich mit dem plumpsten Leben (Russland), um das wirkliche Leben (uns) zu vernichten = / Das sagt ein Angehöriger des deutschen Reiches, das die Türken, diese ewigen Barbaren, die Türken, diese unwandelbaren Nichteuropäer gegen die Civilisation unseres Welttheils losgelassen hat – und das sich ihnen nach Kräften ähnlich macht! / Wohlverstanden: das Deutsche Reich kann der Türkei ähnlich werden, niemals aber wir Deutsche den Türken.“