Wenn die Geschichte uns erzählt

Wahre Fallgeschichten aus der Psychoanalyse von Gabriel Rolón und Stephen Grosz

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Psychoanalyse – gibt es sie noch? Wird sie wirklich noch gebraucht? Gibt es nicht längst, zur Freude der Krankenkassen, effektivere Kurzzeittherapien und noch effektivere Pharmazeutika? Weiß man nicht längst, dass Träume nur neuronale Zufallsprodukte sind und der Ödipuskomplex nur ein viktorianisches Fantasma?

Gleich zwei renommierte Vertreter ihrer Zunft sind angetreten, die Öffentlichkeit vom Gegenteil zu überzeugen: der argentinische Analytiker Gabriel Rolón und sein US-amerikanischer Kollege Stephen Grosz, der in London lehrt. Beide, Rolón wie Grosz, präsentieren sich als taktvolle und empathische Vertreter einer klassischen Psychoanalyse, die ihr Augenmerk auf die Versprecher, Witze oder Träume ihrer Klienten richtet – ohne deshalb aber gleich jedes Symptom in eine sexuelle Schublade zu stecken.

Auch ihre Bücher haben vieles gemeinsam: Beide Titel richten sich an ein breites Publikum und sind wohltuend frei von technischem Jargon. Beide erzählen wahre, faszinierende Fallgeschichten. Man lernt Menschen kennen, die Lügen über sich erzählen, um ihre Mitmenschen wie einst ihre Mutter zu Komplizen zu machen; Männer, die mit ihren Ehefrauen schlafen können, nicht aber mit ihrer Geliebten; Frauen, die den frühen Tod ihres Geliebten durch Krankheit zeitlebens als dessen „intelligente Entscheidung“ feiern. Eltern, die lieber ihre Tochter zum Problem erklären, als sich mit den eigenen zu beschäftigen; Kinder, die ihren Therapeuten anspucken, um nicht die Hoffnung zu verlieren, dass mit ihnen doch noch alles gut werden kann.

Auch wurden beide Bücher, das Rolóns wie das von Grosz, in ihren Heimatländern zu Überraschungsbestsellern, und beide sind aktuelle, glaubwürdige Zeugen für die traditionell enge Verwandtschaft zwischen Psychoanalyse und Literatur. Schon Sigmund Freud wunderte sich, dass sich seine Krankengeschichten „wie Novellen“ lesen ließen, und das lässt sich erfreulicherweise auch von denen seiner modernen Nachfolger sagen.

Hier allerdings beginnen die Unterschiede, die interessant sind, weil sie von den Charakteren der Analytiker herrühren. Rolón springt gern mitten hinein in seine Fälle: Offene, auf den Effekt setzende Anfänge – etwa von einer Frau, die in einem Akt der Befreiung auf das Grab ihrer Mutter eine Vase schleudert – wecken zu Beginn die Neugier des Lesers, ehe in verdichteter Form die Vorgeschichte erzählt wird. Es entfaltet sich eine Art Detektivgeschichte mit Rolón als Sherlock Holmes, der am Ende die Geheimnisse seiner Patienten aufdecken und auch allen helfen kann. Sogar der von diffuser Schuld gequälte Priester, Rolóns größte Herausforderung, verlässt am Ende schon nach wenigen Sitzungen irgendwie erleichtert seine Praxis.

Die Fallgeschichten von Stephen Grosz sind anders – nicht nur weil sie ein gemeinsames Thema haben: den Verlust. Zwar sind sie ähnlich verdichtet, aber fragmentarischer, und erinnern in ihrer Lakonie, Offenheit und untergründigen Skepsis an die Kurzgeschichten von Tschechow. Meist sind es nur Ausschnitte aus komplexeren Patientengeschichten, erzählt vor allem, um eine überraschende Erkenntnis über die menschliche Natur zu veranschaulichen, oft begleitet von Einsichten aus der Literatur, von Dickens bis Anne Enright: Warum man Kindern durch Lob ihr Selbstvertrauen austreiben kann oder warum nicht nur die Vergangenheit, sondern oft auch die Zukunft unsere Gegenwart bestimmt.

Der Ausgang der Therapie ist dabei so unwichtig, dass Grosz ihn häufig der Fantasie des Lesers überlässt, und wo er ihn doch erzählt, ist durchaus nicht immer gesagt, dass der Analytiker helfen konnte. Einige Male ist es sogar der Patient, der Grosz belehrt. Ein Asperger-Patient etwa macht ihm nachhaltig bewusst, dass eben doch nicht jeder Mensch dafür geschaffen ist, in einer Beziehung zu leben. Und wo Rolón einer trauernden Frau am Ende zu neuem Lebensglück verhilft, hat Grosz für den Leser die bittere, aber vermutlich wahrhaftigere Einsicht parat, dass die populäre Trost-Theorie von den fünf Trauerstadien falsch ist und dass einen die Trauer noch viele Jahre nach dem Verlust überkommen kann.

Grosz wirkt als Analytiker damit nicht nur bescheidener, sondern auch sympathischer als Rolón. Letzterer ist mit einer Reality-TV-Show, in der er mit Prominenten Kurzzeitanalysen veranstaltet, in seiner Heimat ein Star. In seinen Fallgeschichten gefällt sich Rolón in der Rolle des furchtlosen Kämpfers für die Wahrheit, die es zu finden und auszusprechen gilt. Das ist zwar spannend gemacht, aber nicht frei von Eitelkeit, etwa wenn Rolón einen Klienten, dem ein verräterischer Versprecher unterlaufen ist, „wie ein Boxer, der gerade einen wichtigen Treffer gelandet hatte […] in die Ecke zu drängen“ versucht.

Wenn Stephen Grosz dagegen die Symptome seiner Klienten als unbewusste Formen der Kommunikation zu verstehen sucht, so bleibt das Leid des Einzelnen stets bewusst. Die Paranoia einer Frau, die beim Aufsperren ihrer Wohnungstür stets erwartet, von einer Explosion zerfetzt zu werden, deutet er etwa als den verzweifelten Versuch, vor sich selbst das Bild eines Menschen aufrechtzuerhalten, der anderen wichtig ist – so wichtig, dass man ihn umbringen will. Was immer noch besser scheint, als sich einzugestehen, in Wahrheit so einsam zu sein, dass sich keiner um einen kümmert. Weshalb es für Grosz am Ende einer Sitzung das Wichtigste ist, dass ihn der Patient mit dem Gefühl verlässt, gehört worden zu sein. Denn „wenn wir […] keine Möglichkeit haben, unsere Geschichte zu erzählen“, so sein Fazit, „erzählt die Geschichte uns – wir träumen diese Geschichten, wir entwickeln Symptome, oder wir merken, dass wir uns auf eine Weise benehmen, die wir nicht verstehen.“

Titelbild

Gabriel Rólon: Auf der Couch. Wahre Geschichten aus der Psychotherapie.
Übersetzt aus dem Spanischen von Peter Kutlzen.
btb Verlag, München 2013.
255 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783442753895

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Stephen Grosz: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste.
Übersetzt aus dem Englischen von Bernhard Robben.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
240 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100287151

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch