Im Hintergrund das Meer

Über Anne von Canals Roman „Der Grund“

Von Kathrin SchlimmeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kathrin Schlimme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie lange braucht es, sich selbst zu finden? Wie viel Vergangenheit muss man dafür hinter sich lassen, und ist das überhaupt möglich: die eigene Vergangenheit vollends ausblenden? Wie viele Neuanfänge können gelingen, und wann müssen sie scheitern? Um diese Fragen kreist das Geschehen in Anne von Canals erstem Roman „Der Grund“, der Lebensgeschichte eines Mannes, der sich immer wieder neu sucht.

Einmal scheint er angekommen zu sein, dieser Laurits Simonsen: als Stockholmer Arzt, glücklicher Ehemann und liebevoller Familienvater lebt er ein durchaus erfolgreiches und sogar erfülltes Leben, eine ganze Weile lang. So lange, bis nach und nach alles zerbricht: die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft. Was bleibt, sind Wut, Schmerz und Trauer – Gefühle, die zuzulassen oder gar zu bewältigen Laurits nie gelernt hat in seinem großbürgerlichen Stockholmer Elternhaus voller Konventionen. Und schließlich die Endlosigkeit des Meers. „Wenn rundherum kein Land zu sehen ist und die Wasseroberfläche eine dunkelgraue Wüste ist, kommt es mir manchmal so vor, als […] stünde alles still. Wir, die Welt, der Augenblick. Für immer. […] Aber in Wahrheit pflügt das Schiff durch die Zeit, der Bug ist schon Zukunft, das Heck längst Vergangenheit. Es gibt nur eine Richtung und kein Zurück. Voraus ist immer noch Hoffnung. Achtern nie. […] Warum sollte man also zurückschauen?“

Erst einmal also die Flucht, unter neuem Namen in ein neues Leben, das allerdings für den Protagonisten von Beginn an einen schalen Beigeschmack hat. „Heute Abend für Sie an den Tasten: LAWRENCE ALEXANDER! Klingt wie Brandy Alexander. Klingt wie speckiger Anzug mit durchscheinenden Ellenbogen. Klingt wie gescheiterte Existenz. Klingt erbärmlich und wie alles, was ich nicht sein will.“ Immerhin, eines ist ihm geblieben, vielmehr wiederentdeckt: die Liebe zur Musik. „Zwei Stunden Klavier gespielt. Ich kann immer noch völlig versinken, wenn ich […] spiele. Es beruhigt meine Nerven. Mein Herz. Den Kopf leeren, bis nichts mehr existiert als Töne und alles in Bedeutungslosigkeit zerfließt. Manchmal glaube ich, Klavierspielen ist die einzige Fähigkeit, die mir geblieben ist. Das Einzige, was mich hält.“

Das Meer und die Musik, und schließlich noch die Bekanntschaft eines kleinen Jungen; die lange Reise bietet endlich doch Zeit und Raum, Vergangenes nahe kommen zu lassen. Das führt zunächst zu Schmerz und zur Auseinandersetzung mit dem Geschehenen, vor allem aber dazu, dass Laurits sich selbst wieder näher kommen kann. Anne von Canal beschreibt diesen Prozess mit großer psychologischer Feinfühligkeit, die sie dezent in eine anschauliche Darstellung des Innenlebens dieser Hauptfigur umsetzt. Das führt dazu, dass man Laurits Simonsen immer näher und immer neu kennen lernen will, in seiner ganzen Widersprüchlichkeit.

Nicht nur deshalb ist der Autorin ein wirklich guter erster Roman gelungen; erwähnenswert ist neben den durchweg überzeugend gezeichneten Charakteren vor allem der geschickte Aufbau des Romans, der Laurits Simonsens psychologischen Prozess einer langsamen Annäherung an das Geschehene widerspiegelt. Und beinahe bis zum Ende hinauszögert, was eigentlich geschehen ist.

Titelbild

Anne von Canal: Der Grund. Roman.
Mare Verlag, Hamburg 2014.
272 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783866481961

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