Historische Aufreger

Der von Andreas Gelz, Dietmar Hüser und Sabine Ruß herausgegebene Tagungsband „Skandale zwischen Moderne und Postmoderne“ knüpft gewinnbringend an Thesen der Skandalforschung an und entwickelt sie interdisziplinär weiter

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Einleitung des Bandes „Skandale zwischen Moderne und Postmoderne“ ist zu entnehmen, dass die Tagung, deren Beiträge nun schriftlich versammelt sind, bereits vier Jahre zurückliegt. Verzögerungen wie diese sind in der Wissenschaft nicht selten und sehr verständlich. Trotzdem muss die Wartezeit in diesem Fall bedauert werden, denn für das Forschungsfeld bietet die Publikation spannende neue Perspektiven.

Angewandte Skandaltheorie

Verschiedene Beiträge zeigen, dass die Erkenntnisse früherer Skandalstudien wahrgenommen und für praktikabel erachtet worden sind. Was Definition, Verlauf und Funktion des Skandals betrifft, werden klassische Ansätze übernommen und konkret angewendet. Der Historiker Jörn Leonhard zum Beispiel übernimmt die Erklärung des Skandals als Reaktion auf einen Normkonflikt, weshalb sich an ihm die „komplexen Prozesse von Normwandel, Normkonkurrenzen und Normambivalenzen“ ablesen lassen; er ist nicht weniger als ein „Knotenpunkt vergangener Erfahrungsdeutung, zumal im Blick auf den Umbruch legitimer Herrschaftsordnungen.“ In seiner Analyse mehrerer Skandale in Frankreich nach 1814/15 wird dann auch deutlich, dass sie Indizien einer sich im Umbruch befindenden Gesellschaft sind, die sich gegen die antiliberalistische Gesinnung ihrer Regierung auflehnt. Aber sie sind noch mehr: indem Skandale Themen wie Korruption, Protektion der Kirche und Bestechung von Abgeordneten auf die Agenda brachten, haben sie selbst zum Umdenken und Verändern angeregt.

Komplexität der Norm

Die Behauptung, jedem Skandal sei ein Normbruch vorausgegangen, macht die Sache nicht weniger komplex. Auf verschiedene Weisen stellen sich gesellschaftliche Normierungen als vielschichtige Prozesse heraus; menschliche Normen als überraschend unbestimmt. Michael Dellwing betont das in seinem Beitrag besonders radikal: Unter Verwendung der Theoreme von Erving Goffmann besteht er auf der Performativität von Normen: „Soziale Beziehungen sind, ebenso wie soziale Identitäten, Normen und Normbrüche, keine abstrakten Objekte in der Welt, sondern bestehen nur, solange sie gegenseitig (und in einem Kontext) definiert werden.“ Er wendet sich damit kritisch gegen eine Festschreibung von Normen in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Skandal, die ihn somit selbst fortführten statt zu analysieren. Wenn sein Beitrag auch durch einen besonders hohen Reflexionsgrad hervorsticht, übersieht er doch, dass in den seltensten Fällen „die Norm“ als unumstößlich und eindeutig dargestellt wird: Auch die übrigen Beiträge reflektieren ihre Wandelbarkeit.

Birgit Aschmann etwa zeigt, dass die spanische Königin Isabella II. zwar durch den Ehebruch kurz nach ihrer Hochzeit gegen „genderbezogene Leitbilder“ verstieß, dieser jedoch gegenüber dem Verhalten ihres Ehemannes zunächst in den Hintergrund rückte: Francisco de Asís äußerte sich mehrmals in der Öffentlichkeit über das Verhalten der Königin – offensichtlich um zu ihrem Sturz beizutragen und selbst die Regierungsgeschäfte übernehmen zu können. Damit empörte er die Untertanen mehr als seine Frau. Später diskreditierte sie sich in den Augen der Liberalen durch finanzielle Unterstützung des Klerus ein weiteres Mal. Aschmann spricht von einer „kumulativen Skandalisierung“: Nach und nach ergänzten sich Sex-, Politik- und Finanzskandale zu einem Bild Isabellas, das als „langlebiger Topos“ den antimonarchistischen Diskurs in Spanien bis heute prägt.

Auch Sabine Ruß-Sattar führt vor Augen, dass der Skandal kein so kurzes, flüchtiges Ereignis darstellt wie gemeinhin angenommen. Sie fasst ganze „Skandal-Cluster“ zusammen, die Verschiebungen von Machtkonstellationen zwischen der Politik, dem Journalismus und der Justiz Frankreichs in den 1990er Jahren anzeigen. Und Dietmar Hüser zeigt, wie sich die Tatsache, dass eine friedliche Demonstration algerischer Demonstranten am 17. Oktober 1961 von der Polizei brutal niedergeschlagen wurde, erst in den 1990er Jahren vom „Un-Skandal“ zum „Post-Skandal“ wandeln konnte. Wie diese beiden betont auch Daniel Mollenhauer in seinem Beitrag „Skandal und Gegenskandal: Die Dreyfusaffäre“ die Dauer von Skandalen genau wie ihre Uneindeutigkeit. Er segmentiert sie nicht nur in zwei Etappen, sondern legt zugleich offen, dass sie „ohne Auflösung“ bleiben können. Es ist darüber nachzudenken, ob nicht viele Skandale letztlich zu keinem Konsens führen, sondern vielmehr Perspektiven zugespitzt werden, die als solche Bestand haben.

Transnationale Skandale

Medienlandschaften scheinen aufgrund immer noch bestehender Sprachbarrieren  weitgehend noch nationale Kommunikationsgrenzen zu setzen. Auch der Skandal, dem man gemeinschaftsbildende Funktion zuschreibt, funktioniert deshalb oft national. Guido Thiemeyer zeigt am Beispiel der im Jahr 2000 verhängten EU-Sanktionen aufgrund der Beteiligung der FPÖ an der österreichischen Regierung, wie ein Skandal auch transnational wirken kann. Er kann – zumindest für die Dauer des Skandals – eine europaweite Medienöffentlichkeit herstellen, die identitäts- und gemeinschaftsbildend wirkt.   

Dass dieser Aspekt des Skandals nicht unproblematisch ist, wird im Beitrag von Jens Ivo Engels klar. Sowohl der Panama-Skandal in Frankreich als auch der Welfenfonds-Skandals in Deutschland dienen eben nicht nur der eigenen Identität – der Selbstbeobachtung einer Gesellschaft und ihres Mediensystems, wie Engels schreibt – , sondern auch der Beobachtung, Distanzierung und Abgrenzung vom „Anderen“.

Literatur- und Kunstskandale

Andreas Gelz entwickelt am Beispiel von Miguel de Unamunos 1933 erschienenem Roman „San Manuel Bueno, mártir“ eine „Poetik des Skandals“, die innerhalb des Textes verbleibt. Insofern unterscheidet sich seine Skandalbetrachtung von den übrigen Skandalen des Bandes, wirft aber auch neue Lichter darauf. Dass der Skandal als Thema  oder Schreibweise einen literarischen Text strukturieren kann, liegt an seiner eigenen narrativen Funktionsweise. Dass solche Texte sich besonders durch die „Inszenierung von Ununterscheidbarkeitssituationen, Paradoxien und Aporien“ hervortun, bestätigt die Annahme Frank Böschs, der den Skandal „zwischen Komplexitätsreduktion und -steigerung“ verortet hat.

Wolfgang Asholts Untersuchung der Avantgarde-Skandale läuft genau wie Jochen Meckes Beitrag „Ästhetik des Skandals – Skandal der Literatur“ darauf hinaus, das Vorhandensein von Literaturskandalen in der Gegenwart in Frage zu stellen. Die „radikale Freiheit“, die die Avantgarden durch „Selbstherausforderung“ noch herzustellen vermochten, sei heute nicht mehr möglich (Asholt), wir befänden uns in einer „postskandalösen Epoche“ (Mecke), in der das Ausbleiben eines Skandals den eigentlichen Skandal darstelle. Beide Beiträge liefern interessante Ansätze, indem sie Musterfälle herausarbeiten, die literaturgeschichtlich nachwirken. Doch unterschätzen sie nicht die Literatur, wenn sie ihr aus Gründen ihrer ökonomischen Abhängigkeit die Fähigkeit absprechen, das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft noch mitzugestalten? Und überschätzen sie nicht die moralische und emotionale Toleranz der Leser? Schließlich entscheidet immer noch die Rezipientenseite über das Skandalpotential eines literarischen Textes. 

Theoretisierung

Während manche Beiträger mit den bereits entwickelten Skandaldefinitionen arbeiten, sind andere mit Neu- und Umdefinitionen beschäftigt. Sehr radikale Neukonzeptionen scheitern aber entweder an künstlichen Differenzierungen oder an deren radikaler Aufgabe. Gilcher-Holteys versucht die Affäre vom politischen Skandal zu unterscheiden, indem sie als Auslöser der  Affäre den Intellektuellen im Gegensatz zum Journalisten oder Politiker beim Skandal ausmacht. Außerdem werde im Zuge einer Affäre meist ein zu Unrecht Beschuldigter verteidigt: unschwer ist die Dreyfus-Affäre als Vorbild für dieses Modell auszumachen. Es ist sicher nicht falsch, Skandaltypen zu unterscheiden, in denen es eher um emotional-spontane oder reflexiv-kritische Reaktionen auf einen Sachverhalt geht. Da beides – das stellt auch Gilcher-Holtey fest – jedoch mit einer Mobilisierung der Öffentlichkeit einhergeht und die Affäre sogar als „Skandalisierung eines Skandals“ beschrieben wird, bietet sich die von anderen Beiträgern vorgenommene Unterscheidung zwischen Skandal und Gegenskandal besser an – zumal auch Journalisten ja durchaus Intellektuelle sein können.

Michael Dellwings bereits erwähnter Beitrag, der das soziologische Performanzverständnis einbezieht, stellt die bisher entwickelten Begriffe auf sehr differenzierte Weise in Frage, schließt damit aber Definitionen und Terminologien zu unerbittlich aus. Die meisten übrigen Beiträge führen vor Augen, wie hilfreich stützendes Vokabular beim Betrachten beispielhafter Fälle sein kann.

Gefahren des Skandals

Dass Ingeborg Villinger auf die Gefahr einer „Skandalisierung in Permanenz“ hinweist, ist sicher berechtigt. Manche ihrer Überlegungen sind jedoch recht undifferenziert. Wenn sie „ernsthafte Skandale“ als gewinnbringende Ausgangspunkte für die Meinungsbildung innerhalb einer Gesellschaft festmacht, ließe sich vermuten, dass auch Rezipienten unterscheiden können, ob es sich um ein bloßes „Skandal“-Etikett im Sinne der subjektiven Deutung eines Journalisten handelt oder wirklich eine moralische Problemlage vorliegt. Sollte letzteres der Fall sein, so lässt sich das nicht als „homogenisierende und totalisierende Form von Willensbildung“ abtun, wie die übrigen Beiträge deutlich zeigen. Selbst skandalös wird der Beitrag durch den Hinweis auf „die beobachtbare Muslimisierung des öffentlichen Diskurses“, der ohne Erklärung kontextlos im Raum stehen bleibt. Wenn auch der besorgte Ton nicht ganz passend erscheint, spricht Villinger doch problematische Aspekte wie Emotionalität und die durch die Medien geförderten Wahrnehmungsschemata an. Aber ist der Skandal selbst die Gefahr? Ist es nicht vielmehr die Art der Meinungen und Gefühle, die er transportiert? Fragen wie diese geben die Skandalforschung als weiterhin vielversprechendes Forschungsgebiet zu erkennen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Andreas Gelz / Dietmar Hüser / Sabine Ruß (Hg.): Skandale zwischen Moderne und Postmoderne. Interdisziplinäre Perspektiven auf Formen gesellschaftlicher Transgression.
De Gruyter, Berlin 2014.
332 Seiten, 99,00 EUR.
ISBN-13: 9783110307658

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