Zu dieser Ausgabe

In weiten Teilen dieser Erde toben furchtbare Kriege. Sie stürzen ganze Staaten und Regionen ins Chaos. Dubiose Milizen, Terroristen und Warlords übernehmen das Regime. Sie bringen Tod und Verderben über die Zivilbevölkerung. Die ‚westliche Welt‘ hat viele dieser Situationen durch sogenannte Interventionskriege, die ‚humanitäre Katastrophen‘ verhindern sollten, letztlich nur verschärft oder sogar erst herbeigeführt. In weiten Teilen des Irak, den die USA 2003 angeblich vom Einfluss der Al Qaida bewahren wollte, verbreitet nun die terroristische Folge-Organisation „Islamischer Staat“ mit Massenexekutionen Angst und Schrecken. Derzeit sind 200.000 Menschen auf der Flucht vor den Kämpfern für ein fundamentalistisches Kalifat, und wie so oft wird vor einer erneuten „humanitären Katastrophe“ gewarnt. Ähnlich chaotisch sieht es nach wie vor in Afghanistan aus: Der Krieg islamistischer Guerilla-Kämpfer war und ist offenbar auch durch langjährige westliche Militäreinsätze nicht in den Griff zu bekommen. Schwellenländer wie Pakistan, immerhin im Besitz der Atombombe, drohen bereits seit Längerem in den Strudel der Ereignisse gerissen zu werden.

Gleichzeitig scheint es kaum noch jemanden zu interessieren, was seit Jahren in Syrien vor sich geht. In den vergangenen drei Jahren wurden in diesem Land etwa 150.000 Personen Opfer eines Konflikts, der in seiner Unübersichtlichkeit an den Dreißigjährigen Krieg in Europa erinnert. Allein aufgrund dieser Kämpfe sind bereits neun Millionen Menschen auf der Flucht oder vegetieren in Flüchtlingslagern. Der gesamte Nahe Osten wird durch die politischen Kräfteverschiebungen, die aus diesen Prozessen resultieren, sukzessive destabilisiert.

Auch in Israel und in Gaza sterben die Leute in einem erneut eskalierenden Krieg, den die antisemitische Hamas, die früher mit Syriens Machthaber Assad alliiert war, mittlerweile aber hauptsächlich von Katar aus finanziert und vom Iran mit Waffen versorgt wird, unter anderem mit einem Regen von etwa 13.000 Raketen auf Israel vom Zaun gebrochen hat. Nur zur Erinnerung: Bei der Hamas handelt es sich um eine international geächtete, aber dennoch von Deutschland und den USA mit Hilfsgeldern unterstützte terroristische Organisation, die es sich in ihrer Charta explizit zum Ziel setzt, Israel auszulöschen und dafür Millionen hilflose Palästinenser als Geiseln nimmt, indem sie diese zwingt, illegalen Waffenbasen in Krankenhäusern und Schulen als menschliche Schutzschilde zu dienen.

Bekanntlich ist das erste Opfer im Medienkrieg immer die Wahrheit. Wenn dieser Tage die Welt zuerst immer Israel für alle Gräuel, über die berichtet wird, die Schuld gibt, sollte man aus der Erfahrung der palästinensischen Medienmanipulationen des letzten Jahrzehnts zumindest misstrauisch bleiben. „Den Medienkrieg hat Israel sowieso längst verloren“, meint der Ex-Chef des israelischen Sicherheitsrats, Jaakov Amidror, und der Schriftsteller Amoz Oz, der sich in der israelischen Friedensbewegung engagiert, betont, Israel könne im gegenwärtigen Krieg nur verlieren. Die Bilder zerfetzter Kinder und verletzter Frauen aus dem Gazastreifen dienen jedenfalls „übler emotionaler Stimmungsmache“, schreibt der Journalist Ulrich W. Sahm aus Jerusalem. „Um den Effekt in sozialen Netzwerken zu verstärken, wurden grausige Bilder aus Syrien und Irak ,importiert’ oder alte Bilder aus Gaza recycelt. Die Organisation ,Free Palestine’ gab sogar die 2011 von Hamas-Terroristen ermordete jüdische Fogel-Familie in der Siedlung Itamar im Westjordanland auf Twitter als palästinensische Opfer israelischer Soldaten in Gaza aus.“

Blicken wir nach Afrika. Auch in Libyen, Mali, Nigeria und in Zentralafrika herrscht Terror. Die Bürgerkriege kennen hier längst keine Grenzen mehr und tendieren teils zu genozidalen Eskalationen: In der Region Dafur im Sudan wurden seit 2003 mindestens 300.000 Menschen von arabischen Reiter-Nomaden massakriert, 2.5 Millionen flohen in andere Länder. Somalia ist sogar bereits seit über 20 Jahren ein Failed State. Die islamistische Al-Schabab-Miliz, die mittlerweile in weiten Teilen dieses Landes herrscht, verübte Anschläge in Kenia, darunter 2013 einen besonders spektakulären auf eine zentrale Shopping Mall in Nairobi, bei dem über 60 Menschen ermordet wurden. In Westafrika ist es wiederum die islamistische Gruppierung Boko Haram, die in Nigeria regelmäßig ganze Dörfer auslöscht oder Mädchen aus Schulen entführt, ohne dass die Armee des Staates etwas unternehmen würde. Auch Nigeria steht kurz davor, zu einem gescheiterten Staat zu werden. Dies dürfte nicht ohne ernsthafte Folgen für Nachbarstaaten wie Kamerun und Benin bleiben.

Wer nun meint, er könne all dies zynisch ignorieren, weil es sehr weit weg sei, sollte nach Osten blicken: In der Ukraine, die man zuletzt zum Teil der Europäischen Union machen wollte, feuern nationalistische Milizen um sich und schossen zuletzt sogar ein Passagierflugzeug mit 298 Menschen ab. Es ist, als hätten die Täter mit sadistischer Intention den apokalyptischen Terror-Roman „Glamorama“ von Bret Easton Ellis aus dem Jahr 1998 nachstellen wollen, in dem in einer der furchtbarsten Szenen der US-Gegenwartsliteratur geschildert wird, wie es sich anfühlt, wenn man in einem Flugzeug sitzt, das aufgrund eines Terroranschlags in 10.000 Metern Höhe auseinanderbricht und abzustürzen beginnt. Vielleicht, und das macht alles im Grunde nur noch gespenstischer, war alles nur ein tragisches „Versehen“ einiger idiotischer Amateure, denen man moderne Luftabwehrraketen an die Hand gegeben hat.

Die Lage ist Ernst: Renommierte Poltiker warnen davor, dass es zu einer ungewollten Eskalation zwischen Russland und dem Westen kommen könnte. Dies würde zu einem Krieg führen, der die Sicherheit in ganz Europa gefährdete, mahnen sie – zumal es auf beiden Seiten nach wie vor Tausende Atomwaffen gebe, die sich in Alarmbereitschaft befänden. Man mag es sich nicht vorstellen: Die gebetsmühlenhafte Beteuerungen Angela Merkels und anderer angesichts des NSA-Konflikts Deutschlands mit den USA, der Kalte Krieg sei doch eigentlich längst vorbei, müsste dann der entsetzlichen Erkenntnis weichen, dass sich Europa stattdessen in offene Kampfhandlungen mit den Resten einer ehemaligen Supermacht verstrickte, die tatsächlich selbst nie aufgehört hat, sich als solche zu definieren und entsprechende geopolitische Ansprüche zu stellen.

Was geht hier vor? Die einen führen es auf das globale Dahinsiechen des kapitalistischen Systems zurück, das uns, allein schon von den Zahlen der Vertriebenen- und Flüchtlingsströme her, die derzeit in Lateinamerika, vor allem aber auf dem afrikanischen Kontinent und im Nahen Osten zu beklagen sind und von dort aus Europa erreichen, in einen „Weltbürgerkrieg“ hineinmanövriert habe (so Tomasz Konicz in der August-Ausgabe der „konkret“). Andere, darunter der australische Bestseller-Historiker Christopher Clark, verweisen auf beunruhigende Ähnlichkeiten der weltweiten Konfliktsituation im Jahr 2014 mit derjenigen im Jahr 1914.

Einmal mehr reiben wir uns irritiert die Augen, da wir feststellen müssen, dass alles im neuen Jahrtausend offenbar immer so weitergeht wie ehedem und dass eine Welt ohne Kriege nicht zu erreichen zu sein scheint. Man mag sich bei der Gelegenheit einmal mehr an Sigmund Freuds Text „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ aus dem Jahr 1915 erinnern, den wir aus aktuellem Anlass in einer unserer Sonderausgaben wiederveröffentlichen. Der Vater der Psychoanalyse reflektierte darin die „Kränkung und schmerzliche Enttäuschung wegen des unkulturellen Benehmens unserer Weltmitbürger“ im Ersten Weltkrieg, die so unerwartet in den vorzivilisatorischen Status der allgemeinen Barbarei zurückgesunken seien. Freud kommt in seinem Text zu dem ernüchternden Schluss, dass diese brüsken emotionalen Reaktionen auf die Gewaltlust der Zeitgenossen letztlich unberechtigt gewesen seien: „Sie beruhten auf einer Illusion, der wir uns gefangen gaben.“ In Wirklichkeit seien die Kriegsteilnehmer nämlich gar „nicht so tief gesunken, wie wir fürchten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wirs von ihnen glaubten“. Die Enttäuschung angesichts des Beginns des Ersten Weltkriegs sei also unberechtigt gewesen, da sie schlicht „in der Zerstörung einer Illusion“ bestand: „Illusionen empfehlen sich uns dadurch, daß sie Unlustgefühle ersparen und uns an ihrer Statt Befriedigungen genießen lassen. Wir müssen es dann ohne Klage hinnehmen, daß sie irgend einmal mit einem Stück der Wirklichkeit zusammenstoßen, an dem sie zerschellen.“

Die Erinnerung an die gemeingefährliche Dummheit, die militaristische Selbstüberschätzung und den zerstörerischen Verlauf des Ersten Weltkriegs, der dieses Jahr so ausführlich Thema ist, bleibt dennoch lehrreich – zumindest für diejenigen, die versuchen möchten, etwas daraus zu lernen. Freuds Überlegungen zur befremdlichen kollektiven Weigerung, offensichtliche Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, lassen sich ebensogut auf unsere heutige Situation anwenden, etwa was den eskalierenden Antisemitismus auf den Straßen Europas angeht, der sich keineswegs auf das bezieht, was in Israel dieser Tage tatsächlich geschieht, sondern vielmehr mit weit tiefliegenderen Affekten zu tun hat, die ganz anderen soziokulturellen Gemengelagen entspringen: „Vielleicht hat uns aber ein anderes Symptom bei unseren Weltmitbürgern nicht weniger überrascht und geschreckt als das so schmerzlich empfundene Herabsinken von ihrer ethischen Höhe. Ich meine die Einsichtslosigkeit, die sich bei den besten Köpfen zeigt, ihre Verstocktheit, Unzugänglichkeit gegen die eindringlichsten Argumente, ihre kritiklose Leichtgläubigkeit für die anfechtbarsten Behauptungen.“ Die Psychoanalyse habe zeigen können, dass „sich die scharfsinnigsten Menschen plötzlich einsichtslos wie Schwachsinnige benehmen, sobald die verlangte Einsicht einem Gefühlswiderstand bei ihnen begegnet, aber auch alles Verständnis wieder erlangen, wenn dieser Widerstand überwunden ist. Die logische Verblendung, die dieser Krieg oft gerade bei den besten unserer Mitbürger hervorgezaubert hat, ist also ein sekundäres Phänomen, eine Folge der Gefühlserregung, und hoffentlich dazu bestimmt, mit ihr zu verschwinden.“

Diese Zeilen wirken nun umso niederschmetternder, da wir wissen, wieviele Rückfälle es seither gegeben hat und wie die Welt heute aussieht. Mittlerweile wissen wir zudem, dass die Emotionen und die Kognitionen keinesfalls derart gegensätzlich funktionieren, wie Freud es in seinem Essay noch annahm. Es handelt sich vielmehr um grundlegende und in Kombination wirksam werdende Komponenten unserer Wissensbildung, die in komplexen Gruppenprozessen generiert und innerhalb dieses Umfeldes für ,natürlich’ gehalten werden. Daher wirken sie so nachhaltig. Und gerade deshalb ist es so wichtig, sich im Sinn der Aufklärung auf längst gemachte Erfahrungen zurückzubesinnen. Sie sollten Grund genug dafür sein, alle nur erdenklichen Schritte dafür zu unternehmen, ein erneutes ,Weltenende’ zu verhindern: Diesen Monat widmet literaturkritik.de dem Ersten Weltkrieg, der im August 1914 begann, bereits den dritten Schwerpunkt nach den Ausgaben im Februar und im Juli.

Vor lauter Apokalypse haben wir es aber nicht versäumt, auch noch andere Themen zu berücksichtigen. Es gibt einen Nachruf auf Nadine Gordimer. Zum 40. Todestag Erich Kästners und zum 150. Geburtstag Ricarda Huchs bringen wir Essays von Marcel Reich-Ranicki. Hinzu kommt ein exklusiver Blick nach Österreich, der den zweiten Themenschwerpunkt der August-Ausgabe ausmacht: Studierende der Universitäten in Marburg und Münster haben sich bei einer Seminarexkursion an Orten in Wien umgesehen, die seit ihrer Beschreibung in literarischen Texten Arthur Schnitzlers, Ilse Aichingers, Veza Canettis, Ingeborg Bachmanns oder Thomas Bernhards zu Zielen eines regelrechten Literaturtourismus geworden sind. Die Autorinnen und Autoren haben Essays über diese literarische Topografie geschrieben, die wir in einer Wien-Rubrik, die zudem weitere Rezensionen und Beiträge mit einem Bezug zu Österreichs Hauptstadt beinhaltet, versammelt haben.

Wie heißt es doch bei Arno Schmidt? „Die Welt der Kunst & Fantasie ist die wahre, the rest is a nightmare.“ Es macht diesen Planeten zwar nicht unbedingt besser, aber wer lesen kann, ist zumindest dann klar im Vorteil, wenn er versuchen möchte, damit die Dinge auf alternative Weise zu durchdringen und die Realität, in der wir leben, einmal mit anderen Augen zu sehen. Wer weiß, wo uns das noch hinführen könnte.

Einen friedlichen Sommer wünscht Ihnen
Ihr
Jan Süselbeck