Irrfahrt über die Ozeane

Dieter Richters Studie fasziniert erst – und enttäuscht dann

Von Patrick WichmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Wichmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was hat Odysseus auf seiner Heimreise nicht alles durchleiden müssen. Zehn Jahre Irrfahrt über das Meer, eingesperrt in Polyphems Höhle, die Insel der Sirenen passiert, die Meerenge zwischen Skylla und Charybdis durchkreuzt und in den Fängen Kalypsos gelebt. Poseidon wurde ihm und seinen Gefährten wieder und wieder zum Verhängnis.

Schon in der Antike regten Weite, Unbezwingbarkeit und Unergründlichkeit des Meeres die Fantasie an. Und so ging es fort; davon legen Gestalten wie der Leviathan, sein Wiedergänger Moby Dick, der Wilde Wassermann und der Fliegende Holländer Zeugnis ab. Letztlich weckt das Unbekannte bis heute Furcht. Welch’ schreckliche Gestalten werden nicht nach wie vor in der Tiefsee, dem letzten unergründeten Ort unseres Planeten, vermutet?

Zugleich hat die überwältigende Größe des Meeres mit zunehmender Seefahrttechnik aber auch einen romantisierenden Aspekt gewonnen. Das Unbekannte wird bekannt und ihm damit der Schrecken genommen. So wird auch aus dem Erderschütterer Poseidon mit einem Mal „eine Art mariner Fährmann“. So beschreibt es der Literaturwissenschaftler Dieter Richter in seiner Studie „Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft“. Diesen Gegensatz zwischen Schreckens- und Sehnsuchtsort summiert er knapp: „Es ist eine archaische Landschaft, Widerpart der Zivilisation, daher immer wieder Traum- und Fluchtort eines alternativen Lebens.“

Richter widmet sich seinem Thema vor allem über die bildenden Künste. Von der Schöpfungsgeschichte, Homer und Hesiod über die frühaufklärerische Dichtung Barthold Heinrich Brockes’ bis hin zu den Betrachtungen Georg Forsters und den Gemälden Caspar David Friedrichs reicht diese am Kanon orientierte geistesgeschichtliche Darstellung. Richter geht es entgegen des Untertitels nicht um die „Geschichte der ältesten Landschaft“, sondern um ihre Rezeption. Wo die Schwerpunkte liegen, lässt sich leicht am Beispiel des Sklavenhandels und der Entdeckung Amerikas demonstrieren; denn diese – obgleich ihrer überragenden Bedeutung für die Geschichte des Meeres – werden nur ausgesprochen kurz beziehungsweise am Besipiel der Ilias erläutert. An diesen Stellen zeigen sich ebenso unverkennbar die Stärken Richters, die schon seine vorherigen Bücher wie „Der Vesuv. Geschichte eines Berges“ ausgezeichnet haben: ein facettenreicher Blick aus kulturgeschichtlicher Perspektive auf ein relativ umrissenes Thema.

Genau dieses Konzept scheint Richter in „Das Meer“ allerdings nach und nach entglitten zu sein. Zu viele Aspekte scheint ihm das Meer offeriert zu haben, sodass er sich etwa ab der Hälfte seiner Darstellung in randseitigen Themen verliert. So widmet sich Richter etwa der Verwendung von Meerwasser in der Medizin, der Geschichte der Meerestiefenmessung und besonders ausführlich dem Thema Baden – zweifellos interessante Aspekte, die jedoch einerseits auf zu wenig Raum abgehandelt werden, um wirklich vertieft betrachtet zu werden, und andererseits mehr Raum greifen, als es der Gesamterzählung dienlich ist. Die thematische Klammer ist hier nur scheinbar vorhanden. Richter verlässt plötzlich die Betrachtung der „Tradition einer langwirkenden Bildersprache“, die er vorab konstatiert hat. Verwirrend ist darüber hinaus so mancher Zeitsprung. Richter arrangiert seinen Stoff, wie es ihm dramaturgisch dienlich ist, nicht wie es logisch zwingend wäre. Das liest sich nett, ist aber methodisch fragwürdig.

Dieter Richter hat eine interessante Sammlung von Anekdoten zusammengetragen, allerdings ist diese auch eine ziellose Irrfahrt: Denn seinem Buch fehlt der rote Faden. Ist es zunächst vor allem eine faszinierende geistesgeschichtliche Betrachtung, wie sie zu erwarten und zu wünschen war, verliert sie sich jedoch bald in nebensächlichen Schauplätzen. „Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft“ hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck.

Titelbild

Dieter Richter: Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2014.
236 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783803136480

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