Sind andere Leute auch so oder nur ich?
Der Roman „Zum Meer“ von Kathrin Gross-Striffler handelt von den Problemen einer jungen Mutter
Von Eileen Eichstädter
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit einem berauschendem Tempo steigt man ein in eine Geschichte von Überforderung, Weltwut – oder konkreter: Deutschland-Wut – von der Angst davor Mutter zu sein in einer Zeit, in der man selbst noch eine braucht. Die Sprache von Kathrin Gross-Striffler in ihrem Roman ist wortgewandt und ausdrucksstark, sie kombiniert eine sehr bildhafte Sprache mit nüchternen und klaren Elementen, es ist eine realitätsnahe Alltagslyrik, die das verklärende am Sonnenaufgang auch mal ganz gerne zerstört.
Sie reißt uns mit ihren vielen kurzen Sätzen, die erst nach vielen Kommata einen abschließenden Punkt erhalten, in die Gedankenwelt einer 20-jährigen Mutter ohne Ausbildung und Ordnung, die nicht weiß, wie sie mit den Ansprüchen ihrer eineinhalbjährigen Tochter und der für sie spießigen deutschen Gesellschaft, zurecht kommen soll. Die sich zurücksehnt nach Brasilien, zu dem Vater des Kindes, der sie, wie sie selbst in klaren Momenten erkennt, nur ausgenützt hat, um an Drogen zu kommen.
Diese Mischung aus Innerem Monolog und Erzählung reduziert das Bild der jungen Saskia keineswegs nur auf eine subjektive eintönige Perspektive. Mit einer fast schon einfühlsamen Art erkennt diese, was die Menschen um sie herum geprägt und verletzt hat, auch wenn sie manchmal in ihrer Welt von Vorurteil und Neid ertrinken muss. Sie erzählt von verschiedenen Lebensmodellen mit einer starken negativen Wertung und manchmal, aber nur manchmal muss man ihr auch recht geben. Immer wieder betont sie, wie sie diese Disziplin, diese Ordnung, diese Verlässlichkeit und Kälte in Deutschland hasst, um in Brasilien zu erkennen, dass ein Mindestmaß an Verlässlichkeit sehr oft auch ganz schön praktisch sein kann. Vor allem, wenn man eine eineinhalbjährige Tochter hat und diese alleine erziehen muss.
Erst spät im Buch erzählt Saskias Vater, der lange Zeit alkoholkrank war, ihr von ihrer eigenen Mutter, die zwei Jahre nach der Geburt an Krebs starb: auch diese war verloren in der heutigen Gesellschaft, immer wieder von Psychosen verfolgt und unruhig, unhaltbar für andere Menschen. Das kann ein Ansatzpunkt dafür sein, warum Saskia so ist wie sie ist, doch es kann auch keine Ausrede für ihr Verhalten sein. Gross-Striffler zeigt einen sehr komplexen Menschen mit sehr vielen komplexen Problemen: Um einschlafen zu können, ist sie auf Gras angewiesen. Sie ist unfähig, aufzuräumen, um sie herum stinkt es, was sie selbst aber nicht zu stören scheint. Sie ist unfähig, auf längere Zeit an einem Ort zu bleiben, unfähig, Freundschaften aufzubauen und zu halten, unfähig, eine Arbeit diszipliniert auszuführen, aber ist sie – so denkt sie selbst – unfähig darin, eine Mutter zu sein?
Sie hasst dieses Kind – das milchkaffeebraune Mädchen Mia-Sophie – dafür, dass es ihr die Freiheiten nimmt, sie liebt es aber auch so, wie eine Mutter ihr Kind liebt. Doch sie möchte keine Verantwortung tragen, verliert oft die Geduld – dabei erscheint ihr das Bild von dem Hamster in ihrer Kindheit, den sie aus Wut auf den Boden geschmissen hat –, es wird deutlich genug, dass sie es alleine nicht schaffen kann, sich um dieses Kind zu kümmern.
Dabei verflucht sie die Gemeinschaftslosigkeit Deutschlands: als sie mit dem Kind nach Brasilien reist und dort tatsächlich den Vater des Kindes wieder ausfindig machen kann, lebt sie ein paar Monate im Glück. Bis alles stückchenweise wieder scheitert und sie eines Tages wieder ohne Mann dasitzt. Als ihr Geld aufgebraucht ist, da denkt man: sie hat es endlich begriffen. Nach ein paar Monaten in Deutschland kommt er wieder, der Hass: „scheiß auf dieses Land“. Obwohl sie Hilfe hat, obwohl sie Möglichkeiten hat, obwohl ihr Vater trocken ist und sie einen Mann gefunden hat, der sie und vor allem ihre Tochter liebt, kann sie Geborgenheit und Sicherheit nicht ertragen.
Es ist erstaunlich, dass das Buch nicht langweilig wird, obwohl sich die Motive immer wieder wiederholen. Jedes Mal variieren sie ein klein wenig und doch endet das Buch so wie es anfängt: Eine Mutter verlässt ihr Kind. Aber da sind so viele Zwischentöne, die erzählt werden müssen. So viele pubertäre Gedanken in einem jungen Kopf, die an sich nichts Verwerfliches sind. Wäre da nicht ein Kind. Die junge Frau fragt sich: „Sind andere Leute auch so oder nur ich?“ Und man möchte ihr antworten: Ja, Saskia, ja es gibt andere Menschen, die so wie du sind. Es gibt vielleicht sogar ganz viele davon, die verloren sind in einer Gesellschaft, in der alles Mögliche zählt, nur nicht die Solidarität. Trotzdem kann man Saskia mit ihrer Wut auf Deutschland und ihrer Verklärung von Brasilien nicht recht geben. Man ist regelrecht genervt beim Lesen, aber immer nur zu einem gewissen Grad, er übersteigt nicht den Punkt, an dem man das Buch weglegen möchte. So richtig Mitleid hat man aber auch nicht, es ist eher so ein Gefühl mittendrin.
Wie der Titel ankündigt, spielt das Meer eine große Rolle. Dabei handelt es sich konkret um die Ostsee und den Atlantik Brasiliens, die beide einen Anziehungspunkt für die Protagonistin sind und auch stellvertretend für ihre Sehnsüchte und Ablehnungen stehen. Die kalte Ostsee im Winter – der Jahreszeit, die Saskia in eine tiefe Depression stürzt – ist ein Sinnbild für das Deutschland, das sie ablehnt, auch wenn sie auf ‚der Insel‘ in der Tante einen Menschen findet, den sie respektieren und auf ihre Art und Weise bewundern kann.
Was überrascht, ist der völlige Nichteinbezug moderner Medien, kein Facebook oder Whatsapp, kein Smartphone oder Laptop, die Protagonistin sieht lediglich nur einmal fern. Ist das wahrscheinlich, dass eine heutige 20-jährige mit ihrem Lebensstil so völlig darauf verzichtet? Die Erklärung liegt darin, dass sie immer alles verliere, doch so ganz überzeugend wirkt das nicht.
Aber das ist letztlich nebensächlich. Der Autorin ist ein großartiger Roman über etwas gelungen, das viele Dinge in sich vereint: eine globale Generation, die damit konfrontiert ist, dass ihr Heimatland sie stärker prägt, als sie es vielleicht wollen; Aufwachsen ohne stabiles Elternhaus, die Wut und der Neid auf andere, ‚die es besser haben‘, eine Teenagerschwangerschaft, die der Tropfen im Fass ist, der das Leben von Saskia zum Überlaufen bringt, das aber auch auch ohne Mutterschaft irgendwann nicht mehr funktioniert hätte.
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