Im Zweifel für den Angeklagten

Milo Rau lässt „Die Moskauer Prozesse“ neu verhandeln

Von Josefine PfützeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josefine Pfütze

Milo Raus Film „Die Moskauer Prozesse“ ist vieles: Zuallererst ein Reenactment, bei dem ein historisches Ereignis möglichst detailgetreu inszeniert wird. In seinem ersten Großprojekt „Die letzten Tage der Ceausescus“ (2009/2010) rekonstruierte Rau den Schauprozess und die Hinrichtung des rumänischen Diktators Ceaușescu und seiner Ehefrau. Rau hat sich der „multimedialen Bearbeitung historischer und gesellschaftspolitischer Konflikte verschrieben“, macht aus ihnen Theaterstücke, Filme sowie Performances und gründete dafür 2007 das „International Institute of Political Murder“. Der Leiter des IIPM setzt sich nicht nur als Kunstschaffender mit Geschichte auseinander, sondern promovierte über die „Ästhetik des Reenactments“ und gilt als absoluter Spezialist, der das Reenactment als politische Theaterform etablierte.

„Die Moskauer Prozesse“ ist jedoch kein klassisches Reenactment. Milo Rau lässt die Schauprozesse gegen Kuratoren und Künstler der Ausstellungen „Vorsicht! Religion“ und „Verbotene Kunst“ sowie gegen die russische Punk-Band Pussy Riot innerhalb von drei Tagen im März 2013 erneut durchführen. Ein Drehbuch gibt es nicht. Den inhaltlichen Rahmen bilden die russische Verfassung und das russische Gesetz. Ebenso gibt es keine Schauspieler. Rau versammelt die Protagonisten der Schauprozesse. Sie repräsentieren einen Querschnitt der russischen Gesellschaft und handeln im Film alle nach ihrer jeweiligen Gesinnung, was unweigerlich zu Konflikten führt. Der Regisseur gibt nur den Rahmen vor. Kulisse ist der Pavillon des Sacharow-Zentrums in Moskau – ein Ort, der unmittelbar mit zwei der Prozesse verknüpft ist. Hier fanden die Ausstellungen statt. Hier verwüsteten am 18. Februar 2003 radikale orthodoxe Gläubige Exponate, die unter dem Titel „Vorsicht! Religion“ gezeigt wurden. Angeklagt wurden jedoch nicht die Kunstschänder, sondern die Macher. Laut dem Tagesspiegel habe auch die Exposition „Verbotene Kunst“, die Gefühle der orthodoxen Gläubigen verletzt. Der Sprecher der russischen Kirchenführung Wsewolod Tschaplin forderte, Anzeige gegen die Ausstellung zu erstatten, die 2006 ein Beitrag zur 2. Internationalen Kunstbiennale war.

Dass es sich darüber hinaus um einen Dokumentarfilm handelt, offenbart sich gleich zu Beginn: Milo Rau führt persönlich als Off-Stimme in die Thematik ein, unterstützt durch Bilder der Stadt und der Originalprozesse. Die statische Kamera lässt das Treiben auf Moskaus Straßen und in dessen Untergrund an sich vorbeiziehen, bis sie dem Filmteam zum Drehort folgt und die Einführung in den Setvorbereitungen mündet. Die genau abgestimmte Komposition der Bilder unterstützt die Worte des Regisseurs: Der erste Shot auf die aus den Medien bekannte Christ-Erlöser-Kathedrale, in der Pussy Riot 2012 ihr Punk-Gebet abhielt, der nächste auf vorbeitreibende fragile Glassplitter, die sich in der sich anschließenden Einstellung als Eissplitter des Flusses Moskwa erweisen. Milo Raus Erläuterungen zu seinem Vorhaben und den Hintergründen sind minimalistisch, aber vollkommen ausreichend, auch für gänzlich unwissende Zuschauer.

Zudem ist der Film „Die Moskauer Prozesse“ ein Gerichtsfilm, der einem stringenten Aufbau folgt: Nach der Einleitung und den Setvorbereitungen werden zunächst die Prozesse gegen die Ausstellungsmacher aufgerollt, die im Film zu einem einzigen zusammengefasst sind. Im Anschluss folgt die Gerichtsverhandlung gegen die Musikerinnen, die durch das auf Bewährung freigesprochene Bandmitglied Katja Samuzewitsch vertreten werden. Eine Einblendung zeigt den Beginn der einzelnen Verhandlungen an. Die Anklage wird verlesen. Die Kreuzverhöre der Zeugen durch Staatsanwaltschaft und Verteidigung stehen im Mittelpunkt. Die Kamera bleibt währenddessen unsichtbar. Nur der russische Staat bringt Unordnung in das Geschehen: Beamte der Einwanderungsbehörde und ein Polizeikommando unterbrechen am dritten Verhandlungstag die Veranstaltung, um Milo Raus Papiere zu prüfen.

Ansonsten geht es ausnahmsweise nur verbal heiß her zwischen Kremltreuen, Ultraorthodoxen, Menschenrechtlern und Kunstexperten. Ihre Positionen sind eindeutig und werden durch zusätzliche Interviewsequenzen mit einzelnen ProzessteilnehmerInnen untermauert. Trotz der politischen Brisanz kommen dem deutschen Zuschauer unweigerlich nachmittägliche Fernsehformate wie „Richter Alexander Hold“ und „Richterin Barbara Salesch“ in den Sinn – sehr passend, dass das IIPM selbst „Die Moskauer Prozesse“ als „Justiz-Spektakel“ bezeichnet. Angesichts der verschrobenen Ansichten so manches Anwesenden wünscht sich der Zuschauer regelrecht jeden Moment auf seiner Couch aufzuwachen, jedoch wird hier die traurige russische Gegenwart widergespiegelt, die ihre Opfer fordert. Der bewegendste Moment ist die Vernehmung des russischen Philosophen Michail Ryklin, der mit seiner Frau Anna Altschuk aufgrund der zunehmenden Anfeindungen nach dem Prozess 2007 nach Deutschland emigrierte. Sie, die als Kuratorin der Ausstellung „Vorsicht! Religion“ angeklagt und zu einer hohen Geldstrafe verurteilt wurde, beging 2008 in Berlin Suizid – davon ist ihr Mann überzeugt. Die Presse spekuliert auf Mord. Auch wenn dies nicht mehr geklärt werden kann, eindeutig ist, dass es nicht um Anna Altschuk als Person ging, sondern dass an ihr ein Exempel statuiert wurde.

Am Ende geht dann doch alles ganz schnell: Bereits nach knapp 90 Minuten verkünden die Geschworenen ihr Urteil. Regisseur Milo Rau erklärt die Theaterperformance für beendet und der Kinobesucher, der nur mühsam aus seinem Traum russischer Wirklichkeit aufwacht, muss mit schlaftrunkenen Augen sehen, wie die Prozessteilnehmer applaudieren – ein surrealer Moment bei so viel Realitätsnähe. Was bleibt, ist immerhin ein halbwegs guter Gedanke: Auch im russischen Gesetz gilt eigentlich der Leitsatz: „Im Zweifel für den Angeklagten“.

„Die Moskauer Prozesse“ (Deutschland 2014)
Regie & Buch: Milo Rau
Mit: Maxim Schwetschenko, Anna Stavickaja, Katja Samuzewitsch, Dmitri Gutow, Anton Nikolaew u. a.
Kamera: Markus Tomsche
Schnitt: Lena Rem
Musik: Pussy Riot
Ton: Jens Baudisch
Produzenten: Arne Birkenstock, Jens Dietrich, Milo Rau
Laufzeit: 86 Minuten
Verleih: Real Fiction Filmverleih e. K.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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