Zwischen Himmel und Hölle

Dave Eggers „Der Circle“ zeigt die große Ambivalenz einer total vernetzten Gesellschaft

Von Daniela OttoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniela Otto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es passiert nicht oft, dass sich die Feuilletons wegen eines Buches überschlagen. „Der Circle“, der jüngste Roman des amerikanischen Schriftstellers Dave Eggers, hat es aber geschafft, dass ihm die großen Zeitungen des Landes ihren gesamten Kulturteil widmeten. Es sei „das Buch der Stunde“, so die „FAZ“. Liest man Eggers‘ über 500 Seiten langes Werk, so kann man sich zumindest eines Gefühles nicht erwehren: Es ist ein Buch über das letzte Stündlein, das für die Menschheit geschlagen hat.

Dass die Welt am Rande des Abgrundes steht, sieht die Heldin des Romans allerdings anders. „Ich bin im Himmel“, denkt Mae an ihrem ersten Arbeitstag beim Circle, einem gigantischen, an Apple, Google, Amazon, Facebook und Twitter erinnerndes Unternehmen. Der Arbeitsplatz ist, ganz in der Tradition der hippen Silicon-Valley-Firmen, ein illustrer Abenteuerspielplatz: Ein Campus mit Restaurants, Partys und Einkaufsmöglichkeiten – ziemlich cool statt spießig also. Hier, im sonnigen Kalifornien, werden die Mitarbeiter zu einer sektenartigen Gemeinschaft eingeschworen: „Community first“ heißt einer der Leitsprüche des Unternehmens.

Die 24-jährige Mae, eine durch und durch naive Figur, adaptiert die Firmenphilosophie wie keine zweite. In kürzester Zeit avanciert sie zum Vorzeige-Circler und transportiert die Hauptbotschaft der Firma: Alles was passiert, muss bekannt sein. Der Circle hat sich das Ziel der eigenen Vollendung gesetzt – der Kreis soll sich schließen – und dies gelingt nur, indem vollständige Transparenz hergestellt wird. Um dies zu erreichen, lässt sich der Circle immer neue Strategien einfallen. Allem voran soll das System SeeChange, bei dem weltweit Minikameras installiert werden, die alles und jeden beobachten, den Erfolg garantieren.

Und die Dynamik nimmt ihren Lauf. Nicht nur werden immer mehr Politiker zu gläsernen Menschen, sondern auch Mae verschreibt sich der totalen Transparenz. Wie ein Medaillon trägt sie eine filigrane Kamera um ihren Hals, lässt Millionen von Zuschauern an ihrem Leben teilhaben. Der einzige Raum, in dem sie für wenige Minuten ungestört sein kann, ist die Damentoilette – ein buchstäblich stilles Örtchen, an dem es ihr gestattet ist, die Kamera auf die Tür zu richten und den Ton auszuschalten.

Der Circle, der sich schnell als tyrannisches Monopol entpuppt, vereinnahmt Maes Leben und ihre Seele. Einem treuen Jünger gleich betet sie die Glaubenssätze der Firma nach: „Geheimnisse sind Lügen“, „Teilen ist Heilen“, „alles Private ist Diebstahl“.

Drastisch, teils zu plakativ und doch gelungen, entwirft Eggers ein klassisches dystopisches Szenario, das in der Tradition von Orwells „1984“ steht. Während Mae sich im Paradies wähnt, scheint man als Leser das lodernde Höllenfeuer dieser total vernetzten und vollkommen transparenten Welt zu spüren. Maes Unterschrift unter ihrem Arbeitsvertrag ist ein Pakt mit dem Teufel.

Zwischen Himmel und Hölle ist das Motto des Romans, der von religiöser Metaphorik durchzogen ist und die große Ambivalenz des Internetzeitalters vor Augen führt. Dem radikalen Fortschrittsstreben der Masse steht die reaktionäre Ablehnung Einzelner entgegen. Natur statt Technik, Wald statt Hightech, Privatheit statt Gläsernheit, so die Sehnsüchte jener, die sich dem Circle entgegenzustellen versuchen.

Doch das Unternehmen ist ohne Gnade, ein Hai, der alles frisst. Das Motiv des Verschlingens ergibt auch psychoanalytisch Sinn. So ist das Versprechen der großen Netzwerke ein exemplarisch mutterarchetypisches: Geborgen im wohligen Netz ist man nie allein. Aus Nestwärme wird Netzwärme. Doch wer C. G. Jung kennt, der weiß, dass dieser Mutterarchetypus auch bedrohlich sein kann: Er wird zum verschlingenden Monster.

Und so verleibt sich der Circle immer mehr ein, breitet seine eigene pervertierte Heilsvorstellung über die Menschheit aus. Der Transparenzterror ist unaufhaltbar. Das Ende mag schließlich überraschen – oder auch nicht – denn nicht nur Erlösung, sondern auch die Apokalypse ist letztlich eine Frage des persönlichen Glaubens.  

Titelbild

Dave Eggers: Der Circle. Roman.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014.
560 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783462046755

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