Ein tragischer Todesfall als Folge subtiler Gefühlskälte
Donna Leon beweist in „Das goldene Ei“ einmal mehr Talent zur Schilderung menschlicher Grausamkeit
Von Barbara Tumfart
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie gebürtige Amerikanerin und langjährige Wahl-Venezianerin Donna Leon lässt in ihrem 22. Brunetti-Roman „Das goldene Ei“ den sympathischen, kultivierten Commissario einmal mehr in die Untiefen der italienischen Gesellschaft eintauchen. Wer allerdings einen spannend-rasanten Krimi mit viel Mord und Totschlag erwartet, wird mit dem neuen Roman der Bestseller-Autorin garantiert enttäuscht sein. Eingefleischte Brunetti-Fans werden hingegen mit diesem leisen, melancholischen Buch ihre große Freude haben, werden doch darin alle Erwartungen der Donna Leon Fangemeinde aufs Neue befriedigt: die Sehnsucht nach dem (dekadenten) Venedig, die immer wiederkehrende Kulinarik in Form von opulentem Essen und reichlichem Weingenuss, die seit Jahren bekannte Gruppe an sympathischen Hauptfiguren und die beißende Kritik an Italiens Innenpolitik und der gesellschaftlichen Diskrepanz zwischen Arm und Reich.
Brunetti wird zu Beginn des Buches von seinem Vorgesetzen Vice-Questore Patta gebeten, diskret in einem Korruptionsverdacht rund um die Familie des Bürgermeisters von Venedig zu ermitteln und mögliche Verdachtsmomente unauffällig zu „beseitigen“. Da kommt es Brunetti recht gelegen, als ihm seine Frau Paola von dem tragischen Tod eines jungen taubstummen Mannes erzählt, der jahrelang als Gehilfe in der Wäscherei in der unmittelbaren Nachbarschaft zu den Brunettis gearbeitet hat. Brunetti beginnt zu ermitteln, anfangs eher nur sehr halbherzig. Als sich aber herausstellt, dass der offenbar auch geistig zurückgebliebene Davide Cavanella an einer Überdosis Schlaftabletten im eigenen Bett gestorben ist, dass dieser nie eine öffentliche Schule besucht hat und keinerlei Freunde hatte, wird Brunettis Neugier geweckt. Cavanella verfügte offenbar über keinerlei persönlicher Dokumente, wurde nie behördlich registriert und führte allem Anschein nach jahrzehntelang ein Schattendasein. Seine Mutter, eine unzugängliche und abweisende Frau, verstrickt sich zusehends in Lügengeschichten. Nach und nach kommen die tragischen Lebensumstände von Davide ans Tageslicht: Als illegitimer Sohn eines venezianischen Großindustriellen, des sogenannten „Kupferkönigs“, wurde er von der hasserfüllten Mutter zu einem Art „Kaspar Hauser“-Dasein verurteilt und so in die totale soziale und kommunikative Isolation gezwungen. Die „Lösung“ des Todesfalles wird knapp und rasant vor dem unmittelbaren Ende des Buches präsentiert, wobei die immense Tragik desselben den Leser irritiert und nachdenklich zurücklässt.
„Das goldene Ei“ ist kein spannender Kriminalfall in üblicher Krimi-Manier, sondern einmal mehr eine sozialkritische und gesellschaftspolitische Anklage der Grande-Dame der Bestsellerlisten. Als Einstieg in die Brunetti-Serie ist dieser Fall sicherlich nicht empfehlenswert, für den Brunetti-Routinier ist der Roman allerdings auf jeden Fall eine lesenswerte Bereicherung. Neben den erwarteten Venedig-Klischees, den üblichen kulturellen und kulinarischen Gusto-Stückchen, schockiert die Neuerscheinung mit einem besonders tiefgründigen Einblick in die Abgründe der menschlichen Seele und entführt den Leser in die Untiefen der menschlichen Grausamkeit. Grausamkeit, die sich nicht mit körperlicher Brutalität äußert, sondern die sich in subtiler Gefühlskälte und sozialer Gleichgültigkeit manifestiert.
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