Beinah brillant

Morrisseys „Autobiography“ steht sich zuweilen selbst im Weg

Von Aline WollmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Aline Wollmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die eigene Autobiographie als Klassiker der Weltliteratur zu veröffentlichen ist eine anmaßende Geste – und passt somit bestens zum Ruf von Steven Patrick Morrissey.

Wie alles, was der britische Sänger sagt und tut, sorgte auch das Erscheinen seiner Lebensgeschichte als Penguin Classic im Oktober letzten Jahres für Kontroversen:

„Bigmouth strikes again” (zu dt. etwa: „Großmaul schlägt wieder zu” – Anm. d. A.) zitierten die britischen Medien spöttisch einen Liedtitel von The Smiths, als deren Frontmann er in den Achtzigern zu Ruhm gelangte.

Dabei konnte ihm bei aller Häme und Kritik doch niemand seine Gabe absprechen, meisterlich mit Sprache umzugehen. Hatte er dies bislang vor allem im Liedtextformat bewiesen, legte er 2013 ein ganzes Buch vor, in dem er auf sein Leben und seine bisherige, bereits über dreißig Jahre andauernde Karriere im Musikgeschäft zurückblickt.

Der Umfang ist schon mal episch: „And if you have five seconds to spare, then I’ll tell you the story of my life“, sang Morrissey einst – in fünf Sekunden liest man die 457 Seiten jedenfalls nicht, und sie lassen sich, obgleich einige Kürzungen ratsam gewesen wären, ebenso wenig in dieser Zeit zusammenfassen.

Schon bei der Schilderung seiner Kindheit und Jugend in Manchester, die mit beinah 150 Seiten ein Drittel des Buches ausmacht, fällt Morrisseys Schreibstil auf, der durchaus literarische Qualität hat. Die Lust am Erzählen und Beschreiben ist es, die uns die fesselndsten Passagen in „Autobiography“ beschert, und diese Lust entfaltet sich bereits zu Anfang in einem regelrechten Kult sprachlicher Ausgestaltung, wobei besonders das Spiel mit Klanglichkeit sowie der Wortwitz Morrisseys ins Auge stechen, der keiner Alliteration widerstehen zu können scheint. Lyrisch, aphoristisch und durchsetzt von zahlreichen literarischen Zitaten und Anspielungen gestaltet sich sein Schreiben als eines, welchem man als Leser mit großer Aufmerksamkeit folgen muss, was man aber gar zu gerne tut, da es mit Genuss entlohnt.

Mithilfe eines unerschöpflich reichen Wortschatzes vermag der Sänger äußerst detailreiche und plastische Rekonstruktionen von Orten und Menschen im Kopf des Lesers zum Leben zu erwecken, Atmosphäre einzufangen, Zeitgeister vergangener Dekaden festzuhalten.

In der Tat hat das Buch enormen dokumentarischen Wert, ist darin doch ein wichtiger Teil an britischer Kultur- und Zeitgeschichte verschriftlicht: Morrisseys niedergeschriebene Erinnerungen zeichnen nicht nur ein lebendiges Bild vom Manchester der Nachkriegszeit und einer unwiederbringlich verlorenen Epoche ohne digitale Kommunikationsmittel, sondern beschäftigen sich vor allem intensiv mit der Populär- sowie Hochkultur der 60er und 70er Jahre, aber auch früherer Jahrzehnte, und gelegentlich mit bereits kanonisierten Klassikern.

Die Eindrücke, Empfindungen und Erkenntnisse des  jungen Morrissey angesichts der bewusst oder beiläufig konsumierten Werke werden von seinem älteren Ich beobachtet und kommentiert, und auf diese Weise Wert und Wirkung von Filmen, Fernsehserien, Literatur, Dichtung und – natürlich – Musik mit scharfem Blick analysiert.

Besonders die Reflexionen über verschiedene Künstler und ihre Werke, die sich durch das ganze Buch ziehen, sind ausgesprochen lesenswert; die Bilder und Vergleiche, mit denen sie bedacht werden, faszinierend. Am meisten trifft dies auf die Abschnitte über die musikalischen Erneuerer zu: in ihnen spürt der Leser bereits die gesellschaftliche Bedeutung jener enfants terribles, die Grenzen überschreiten, Regeln brechen, das Undenkbare wagen und so das konservative England auf den Kopf stellen. Beim Lesen dieser Beschreibungen vollzieht sich der soziokulturelle Wandel vor den eigenen Augen, und man begreift die ganze Tragweite dieser Revolution, die von der Musik auszugehen scheint, wie wichtig diese Änderungen waren, wie notwendig Weiterentwicklung ist. All diese Gefühle des Auf- und Umbruchs nehmen Gestalt an in Form schillernder Figuren wie David Bowie, ein Glam Rock-Heiland auf High-Heels: „[…] and thus I touch the hand of this inexplicably liberating reformer; he, a Wildean visionary about to re-mold England, and I, a spectacle of suffering in a blue school uniform“.

Wenngleich es in einer Autobiographie sein gutes Recht wäre, einen Mythos zu füttern, lässt Morrissey die Helden seiner Jugendzeit nicht völlig unkritisiert davonkommen – etwa die New York Dolls, die er alle mehrmals persönlich trifft, um desillusioniert festzustellen: „Such meetings reveal that which we all darkly suspect about those whose art we have loved: that they are unlikely to be whatever it is we imagine them to be“.

Das Buch lebt von Beschreibungen, von der Darstellung verschiedener Personen, die dem Autor begegnet sind, und diese sind, obwohl stets unterhaltsam, nicht immer differenziert – schließlich schreibt er aus seiner persönlichen Sicht, was immerhin den Reiz einer Autobiographie ausmacht.

Allerdings geht er im Laufe des Buches zu oft dazu über, schreibend an jeglichen Widersachern, die sich ihm in den Weg gestellt oder ihm Übles getan haben, Vergeltung zu üben: Was als berechtigte Kritik am damaligen Schulsystem, an Journalismus oder Justiz beginnt, hätte er als Einschub belassen sollen – so arten diese Passagen oftmals in seitenlange Tiraden aus, in denen Morrissey seinen Gegnern nicht selten jeden Funken Güte und Menschlichkeit abspricht. Neben Politikern wie Margaret Thatcher rechnet er verbittert u.a. mit ehemaligen Lehrern, Journalisten, Richtern, Plattenfirmen und einstigen Bandkollegen ab. So dehnt sich allein der Prozess gegen Ex-Smiths-Schlagzeuger Mike Joyce, der höhere Tantiemen eingeklagt hatte, auf über 50 Seiten aus, während sich Morrissey an anderer Stelle, wo es möglicherweise mehr Interessantes zu berichten gegeben hätte (etwa aus der Smiths-Ära), häufig in langweiligen Beschwerden über Chartpositionen und schlechtes Management ergeht.

Auf diese Weise fällt die Qualität nach dem ersten Drittel des Buches deutlich ab und der Text weiß weniger zu packen – es finden sich zwar immer wieder tolle und spannende Passagen dazwischen, doch überwiegen Bosheit, Belehrungen und Belanglosigkeiten.

Jedes Mal, wenn er vom Willen getragen wird, heimzuzahlen oder richtigzustellen, jedes Mal, wenn der Wunsch nach Anerkennung und Bestätigung manifest wird und Morrissey sich allzu sehr darin ereifert, entweder eine Haltung oder Person gnadenlos auseinanderzunehmen oder aber seinen Erfolg und sein Können unter Beweis stellen will, verliert der Text an Qualität und driftet in Wiederholendes ab, wird langatmig, erschöpfend, uninteressant. Das passiert, wenn man das Schreiben einem Zweck unterwirft.

In den besten Momenten sprüht das Buch vor Wortgewandtheit, Weisheit und atmosphärischer Dichte, ist Plädoyer für Unangepasstheit und Ermutigung zum Selbst-Sein, verknüpft das Besondere immer wieder mit dem Allgemeinen und weist tatsächlich einen hohen Grad an Literarizität auf.

Würde es dies auf voller Länge erfüllen, hätte es sich eher den Status als Penguin Classic und somit den Platz in einer Reihe mit Dickens und Wilde verdient, und obwohl die Eingangspassage im Mai neben Milton, Wordsworth und Shakespeare Teil einer Abschlussprüfung der Cambridge University war, bleiben „fair, kind and true“ auch hier getrennt, geschieden – und somit bleibt das Buch letztlich nur für Fans interessant.

Die gewitzte Sprachgewalt Morrisseys ins Deutsche zu übertragen wird eine sehr große, wenn nicht gar unmögliche Herausforderung – es bleibt abzuwarten, wie die Übersetzung, die im September 2014 im Rowohlt Verlag erscheint, mit dieser Aufgabe fertig wird.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Steven Morrissey: Autobiography.
Penguin, London 2013.
470 Seiten, 12,99 EUR.
ISBN-13: 9780141394817

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