Von Träumen und Traumata

Dennis Gastmann wandelt in seinem Buch „Gang nach Canossa. 1637 Kilometer zu mir selbst“ auf den Spuren Heinrichs IV.

Von Anna VinçonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna Vinçon

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neu ist die Idee nicht, einen Bericht über eine Pilgerreise zu verfassen. Die Idee des Pilgerns an sich ist noch älter. Allerdings ist es kein „normaler“ Pilgerweg, den Gastmann eingeschlagen hat: Selbst sein Vorbild Heinrich IV. hatte weniger religiöse als viel mehr egoistische Beweggründe, um über die Alpen ins italienische Canossa zu wandern. Seinem Nacheiferer geht es nun allerdings weniger um Macht, als darum, „so lange zu marschieren, bis alle Fragen, alle Sorgen und alle Zweifel zwischen mir und dem Universum geklärt sind“.

Und der Pilger hat seine Gründe. Das Hamburger Nordlicht möchte seine Familie von dem Fluch des „alten Heinrich“, seines Urgroßvaters, erlösen und wo er schon einmal dabei ist, die Sünden seines gerüchtehalber „Groß-Groß-Groß-Schwipp-Schwapp-Schwupp-Cousins elften Grades“ Christian Wulff nach Canossa zu tragen. Außerdem leidet er unter der beliebtesten Krankheit unseres Zeitalters, einem Burn-out verbunden mit einem unerträglichen Tinnitus. Dies alles wünscht Gastmann auf seinem Gang irgendwie loszuwerden. Der Besuch eines Wildniscamps und des „Familienorakels“ Lotte, einer alten Freundin der Familie, stimmen ihn jedoch nicht restlos positiv. Im Camp bestätigen sich sämtliche Vorurteile gegenüber Naturpädagogen und Lotte prophezeit ihm, dass er es niemals allein über die Alpen schaffen wird. Hinzu kommt, dass er nicht wie Heinrich in Speyer, sondern in Hamburg losläuft. Allen Zweifeln und Widrigkeiten zum Trotz macht er sich auf den Weg und kommt nach unzähligen Abenteuern, „elf Wochen, fünf Tagen und zwölf Stunden“ schließlich am Castello die Canossa an. Selbstverständlich nicht ohne viele mehr oder minder chaotische, liebenswerte und auch zweifelhafte Bekanntschaften gemacht zu haben. Seien es der nervige Rolf aus der Pfalz oder der herzliche Renato aus Italien, jede erwähnenswerte Person hat ihren Platz in der Gastmann’schen Geschichte bekommen. Immer wieder streut er amüsante Anekdoten aus seiner Heimat oder dem jeweiligen Ort ein, an dem er sich gerade befindet. Gleichzeitig erzählt und interpretiert er die Geschichte Heinrichs IV. und vergleicht dessen Weg mit seinem eigenen.

Gastmanns gute Beobachtungsgabe ermöglicht es ihm, vor allem die Menschen, die ihn einen Teil seines Weges begleiteten oder ihm zumindest ein gutes (oder schlechtes) Essen serviert haben, detailliert zu charakterisieren und selbst die jeweiligen sprachlichen Besonderheiten seiner Bekanntschaften genau wiederzugeben. Einigen mag dieses Buch angesichts der Fülle von aktueller Reiseliteratur vielleicht langweilig erscheinen, jedoch besitzt der Autor die Gabe, seine Erlebnisse charmant zu Papier zu bringen. Seine Welt ist nicht immer gut, aber auch nicht immer schlecht, nie perfekt, aber auch nie langweilig. Am Ende kommt man wieder bei sich selbst an, und das ist ja auch das Prinzip des Pilgerns. Gastmann hat dieses Ziel erreicht: Er weckt den Wunsch zu reisen, nicht unbedingt auf eine Pilgerreise, aber bestimmt eine anstrengende Wanderung mit anschließender Tortellini-Orgie, frei nach Walt Whitman: „Ich bin gesund und frei, die Welt steht mir offen und der lange braune Pfad führt mich, wohin ich will.“

Titelbild

Dennis Gastmann: Gang nach Canossa. 1637 Kilometer zu mir selbst.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2012.
318 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783871347443

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