Die grundlegende Misere

Marlene Streeruwitz alias Nelia Fehn beleuchtet in ihrer „Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland“ die düsteren Zukunftsaussichten einer jungen Generation

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 „In dem Augenblick hätte es mich nicht gewundert, wenn ich vor Sehnsucht und Verzweiflung in die Luft aufsteigen und fliegen hätte können und so doch nach Athen gekommen wäre.“ Doch hochfliegende Träume erzeugen im Griechenland der aktuellen Krise zu wenig Schub, um abheben zu können. So muss Cornelia Holzinger, die junge Anarchistin aus Wien, per Schiff versuchen, von Kreta in die Hauptstadt zu gelangen. Cornelia hat es eilig, am Abend will sie Marios bei einer Demo treffen. Doch auch für Eile ist das heutige Griechenland ein schwieriges Terrain. Hinzu kommt, dass sich die junge Heldin selbst immer wieder Steine in den Weg legt. Weil Evangelos sie zu küssen versucht hat, flüchtet sie aus dessen Auto und verpasst so die Fähre nach Athen. Sie hat diese kleinen Nachstellungen satt. Stattdessen findet sie Unterschlupf auf einem dubiosen Segelschiff, das es auch nur bis zu einer namenlosen Insel schafft. Eine weiterführende Fähre erleidet Motorschaden, sodass Nelia alles in allem zu spät in Athen eintrifft. Marios ist verschwunden. Eine neuerliche Demo führt der Anarchistin aber vor Augen, wie brutal es auf Athens Strassen zugeht. Die Polizei kennt keine Krise, sie darf walten wie nie sonst.

„Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland“ gleicht einer kleinen Odyssee durchs ägäische Archipel. Überall lauern Misshelligkeiten und Pannen, die Nelias Reise nach Athen verzögern. Die Heldin gerät auf eine emotionale Achterbahnfahrt zwischen Auflehnung und Verzweiflung. Mal fühlt sie sich schrecklich wütend, dann wieder packt sie die Angst angesichts der eigenen Ohnmacht wie der Aussichtslosigkeit in diesem Land, in dem alles von irgendwem irgendwie hinweggeschafft und verhökert wird. Beispielsweise die Schwimmwesten auf der dümpelnden Pannen-Fähre. Auf Korruption und Betrug ist Verlass – aber auch auf die Hilfsbereitschaft von einfachen Menschen. Beides ist möglich, bei Begegnungen mit Unbekannten kann Nelia vorab kaum abschätzen, auf welche Seite das Pendel ausschlägt. Sie fühlt sich überfordert und allein gelassen. Auch fünf Jahre nach deren Tod vermisst sie noch ihre Mami. Ihr Wille zum Protest gegen die unhaltbaren Zustände befindet sich in einem prekären Gleichgewicht mit ihrer geradezu leidenschaftlichen Naivität, die bewirkt, dass sie sich manchmal schrecklich dumm anstellt.

So kennen wir Cornelia Holzinger aus Marlene Streeruwitz’ Roman „Nachkommen.“, der im Frühjahr 2014 erschienen ist. Darin wird erzählt, wie die Jungautorin Nelia Fehn mit ihrem autobiografisch gefärbten Buch „Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland“ auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gelangt und ein paar schwierige Tage an der Frankfurter Buchmesse erlebt. Indem Marlene Streeruwitz nun dieses bisher fiktive Buch ihrer Romanheldin nachschiebt, überrascht sie mit einem der frischesten und doppelbödigsten „Debüts“ der Herbstsaison. Auf dem Umschlag wird die 21-jährige Nelia Fehn durch eine Fotografie der jungen Marlene Streeruwitz repräsentiert.

Streeruwitz ist bekannt für ihre kurz angebundene, abgehackte Sprache. Im neuen Alias-Buch jedoch lässt sie den Sätzen freien Lauf. Sie werden luftiger und erhalten viel Freiraum zwischen den Punkten. Einzig kleine sprachliche Eigenheiten deuten auf eine Verwandtschaft mit Streeruwitz’ Romanen hin.

Ein Spiel – und doch mehr. Die Autorin Streeruwitz, die für ihr jugendliches Alter Ego in die Tastatur greift, sorgt dafür, dass der zuweilen naiv idealistisch anmutende Gedanken- und Erlebnisstrom ihrer Alias-Autorin eine subtile Doppelbödigkeit erhält. Vor dem Szenario der griechischen Krise lotet sie die Zukunftsaussichten einer jungen Generation aus, die zwischen heilloser Unerfahrenheit und düsterer Panik hin- und herschwingt und nur mit Mühe einen Platz in den Utopien und Illusionen ihrer Eltern findet. Die Begegnung Cornelias mit alten Freunden der Mutter auf einer abgelegenen Insel spricht dafür Bände. Eine einst aufrührerische Generation ist im Wohlstand erstarrt und bewirtschaftet allenfalls noch müßige Beziehungsfragen. Cornelia fühlt sich von solcher Eitelkeit angewidert und abgeschreckt. Sie mag die „abgefuckten Oldie-Sätze“ nicht mehr hören. Sie träumt von ihrer Liebe zu Marios, dem Anarchisten und Soziologen, mit dem sie der Kampf gegen die Misere verbindet. Seit Tagen aber hat sie nichts mehr von ihm gehört.

Wie sehr sie sich als Fremdkörper in diesem Griechenland des ökonomischen wie kulturellen Niedergangs fühlt, illustrieren immer wieder literarisch brillante ‚Pantomimen‘ der Aufregung und der Wut. Stumm beobachtet Cornelia, wie Menschen durcheinander reden und gestikulieren, wovon sie nichts Genaues mitbekommt, weil sie die Sprache nicht versteht. Nähe und Distanz kommen in diesen Szenen großartig zur Deckung. Während die Erzählung der Heldin oberflächlich einen lockeren, leichten Ton anschlägt, zeigen solche Signale die Doppelbödigkeit. Marlene Streeruwitz thematisiert die Misere, die eine europäische ist und von der sie schon in „Nachkommen.“ erzählt hat, nur unterschwellig. Es sind die zahllosen, für sich selbst marginalen Misslichkeiten, Ungerechtigkeiten, Ungereimtheiten, die sich summieren und den Blick freigeben auf das grundlegende Desaster, das ein griechisches und zugleich ein europäisches ist. Die Menschen werden zu (ökonomischen) Sklaven, die notgedrungen handeln – wie beispielsweise Despina, der Nelia auf dem Weg zur Abtreibung begegnet.

Gerade am guten Ende klingt das Buch düster aus. Nelia findet ihren Marios bei einem Schulfreund verborgen. Bei der Demonstration wurden ihm die Füße zertrümmert. Er braucht dringend medizinische Hilfe, die Füße müssen operiert werden. Doch er hat weder Geld noch eine Versicherung, zudem fahndet die Polizei nach ihm. So bleibt unklar, wie er je gesund werden könnte. Nelia Fehns Buch und dessen Eingabe beim Deutschen Buchpreis könnten vielleicht helfen, wenn sie das Preisgeld gewänne. Doch wie wir aus „Nachkommen.“ wissen, hat sich diese Hoffnung zerschlagen.

Was dafür bleibt, ist das subtile Spiel der Autorin mit ihrer jugendlichen Heldin. Es ist frappant, wie sie sich die Optik ihrer Heldin zu eigen macht. Wie ein Puzzle fügen sich die beiden Bücher zueinander. Marlene Streeruwitz hat einen blendenden Dreh gefunden, um zu zeigen, wie die Eltern ihren Kindern eine politische, gesellschaftliche und ökonomische Misere vermachen, ohne es recht wahrhaben zu wollen.

Titelbild

Nelia Fehn: Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014.
188 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783100022448

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