Adaption eines Albtraums

E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ als Comic

Von Michael DuszatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Duszat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der Sandmann“ ist wohl E.T.A. Hoffmanns berühmteste und komplexeste Erzählung. Der 1817 in der Sammlung Nachtstücke erschienene Text ist ein Bündel von Motiven wie Alchemie, Sexualität und Romantik. Wie die Geschichte des gequälten Träumers Nathanael zu verstehen ist, der an einem in der Kindheit erlebten, rätselhaften Trauma zu Grunde geht, bleibt grundsätzlich offen für viele Deutungen, trotz der scheinbar unausweichlichen, einer düsteren Logik folgenden Handlung.

Die Adaption mit dem Titel Sandmann, die bei editionfaust zur Eröffnung einer Graphic-Novel-Abteilung erschienen ist, nimmt zentrale Momente dieser brillanten Erzählung auf und überträgt sie in Bilder. Dabei hält sie sich inhaltlich strikt an die Handlung der Vorlage und vertraut damit dem Vorbild mehr als viele andere Klassiker-Bearbeitungen. Das Buch ist zwar aus dem Italienischen übersetzt, hält sich in den sparsam eingesetzten Textteilen aber grundsätzlich an das deutsche Original. Viele von Hoffmanns komplexen Sätzen tauchen zwar in gekürzter Form auf, geben aber trotzdem seine eigentümliche Sprache wieder. Zu Anfang heißt es zum Beispiel in Nathanaels Worten: „In süßen Träumen geht mein holdes Clärchen vorüber und lächelt mich mit ihren Augen anmutig an“. Dass das eine gekürzte Version des Originaltextes ist, dürfte kaum auffallen. Gelegentlich gleicht die Übersetzerin Myriam Alfano Hoffmanns Vokabular an unsere Gegenwartssprache an, was aber immer sinnvoll ist; aus „Toller Mensch“ wird zum Beispiel „Verrückter Kerl“.

Das Motiv des Auges spielt eine wichtige Rolle in Hoffmanns Text: Zum Beispiel muss Nathanael als Kind in einer traumatischen Nacht den Verlust seiner Augen befürchten; später verkauft ihm der seltsame „Wetterglashändler“ Coppola künstliche Augen, nämlich ein Fernrohr, und die angebetete Olimpia, die er durch dieses Fernrohr sieht, hat selbst einen starren, leblosen Blick, in den Nathanael wiederum seine Sehnsüchte hineinlegen kann; seine Verlobte Clara dagegen sieht alle Dinge, die für Nathanael faszinierende Einblicke in die Schattenseiten des Lebens sind, besonders nüchtern, sozusagen im Licht der Aufklärung.

Weil es so viel ums Sehen geht, bietet die Vorlage eine Menge Motive, die sich für eine Darstellung in Bildern besonders eignen: Licht und Schatten, Perspektiven und Objektive, Traum und Wirklichkeit, künstliche und echte Augen. Von daher liegt es nahe, dass die Adaption sich auf diese Motive konzentriert. Es kommen tatsächlich viele Augen vor, und praktisch jedes Bild weist auf seine eigene Bildhaftigkeit hin. Farben, Zeichentechniken und Kompositionen werden aufgeladen mit möglichen Bedeutungsebenen und Bezügen, die im Original die Sprache vermittelt. Gelegentlich werden auch einige Aspekte hinzugefügt, die in der Vorlage nicht vorkommen: So hat zum Beispiel eine berühmte Buñuel-Szene einen Kurzauftritt, und in der Hand des diabolischen Brillenverkäufers erscheint eine Hypnosescheibe.

Was die Stimmung und die Komplexität angeht, wird das Buch der Vorlage gerecht: Der Zeichner Andrea Grosso Cipone versteht es, Erfahrungen von instabilen Geisteszuständen und existenziellem Schrecken zu erzeugen und die auch in der Vorlage so bedrückende Sehnsucht Nathanaels begreifbar zu machen. Eines der Bilder zeigt zum Beispiel, wie der verzerrende Blick durch das Fernrohr auf Olimpia sich mit Gewalt in die Wirklichkeit hineingepresst hat: Der Raum um das Fenster, in dem die Angebetete steht, hat sich scheinbar gekrümmt.

Auch die konzeptionelle Arbeit von Dacia Palmerino trifft den Ton des Originals, weil die Motive und Szenen gut ausgewählt und gut kombiniert sind. Hier wird nichts vereinfacht: Das Lesen bleibt eine grundsätzlich abenteuerliche Erfahrung. Wer die Erzählung kennt, erkennt auch in der Adaption die albtraumhafte, aber von einer seltsamen Stringenz bestimmten Erzählweise wieder. Und weil die Adaption die Vorlage in ihrer Rätselhaftigkeit ernst nimmt und nicht etwa zu glätten versucht, lohnt sich auch das mehrmalige Lesen genauso wie beim Original.

Titelbild

Andrea Grosso Ciponte: Sandmann. Nach E.T.A. Hoffmanns "Sandmann" adaptiert von Dacia Palmerino und gezeichnet von Andrea Grosso Ciponte.
editionfaust, Frankfurt a. M. 2014.
55 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783945400036

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