Religion mit oder ohne Gott?

In seinen Berner Einstein Lectures erklärt der 2013 verstorbene Ronald Dworkin die Irrelevanz dieser Frage

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Dezember 2011 sprach der amerikanische Philosoph Ronald Dworkin im Rahmen der Berner Einstein Lectures in drei Vorträgen über die Frage einer Religion ohne Gott (Religion without God). Schon dieser Titel indiziert die besondere Stellung, die diese Vorträge im Werk des insbesondere durch seine Arbeiten zur Rechtsphilosophie und zur Gerechtigkeitstheorie zu akademischer Prominenz – und in den Vereinigten Staaten nicht zuletzt auch zu Einfluss als öffentlicher Intellektueller – gelangten Autors einnehmen. Zu einer umfassenden Ausarbeitung seiner Überlegungen kam der im Februar 2013 im Alter von 81 Jahren verstorbene Dworkin allerdings nicht mehr, sodass die nun in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp publizierten Vorträge, im Oktober 2013 bereits bei Cambridge University Press in englischer Sprache erschienen, so etwas wie ein intellektuelles Vermächtnis des Philosophen sind. Und obwohl solcherlei pathetische Formeln den in nüchterner Klarheit vorgetragenen Überlegungen Dworkins zur Religion zweifellos nicht gerecht werden, bedeuten diese doch weit mehr als den Versuch, mit den Maßstäben säkularer Vernunft subtile begriffliche Unterscheidungen zu treffen oder schließlich gar die Religion in ihnen zu verdunkeln und aufzulösen. Religion ist für Dworkin ohne Gott denkbar. Doch sie von Gott zu lösen, das bedeutet für ihn nicht, sie den Gottgläubigen zu nehmen, als sie vielmehr den Atheisten zugänglich zu machen und so die Grundlagen für eine gemeinsame religiöse Sprache zu schaffen.

Die Vorstellung einer Religion ohne Gott mag bei vielen Lesern Fragen aufwerfen. Wer dazu neigt, unter Religion etwas zu verstehen, das in der einen oder anderen Weise mit dem Glauben an einen Gott – oder mehrere Götter – zusammenhängt, den mag dieser Gedanke befremden. Andererseits sind uns, bei näherem Nachdenken, Religionen, denen die Überzeugung von der Existenz Gottes abgeht, durchaus nicht fremd. Von Randerscheinungen wie einem „christlichen Atheismus“ einmal abgesehen, geht der Buddhismus landläufig als eine Religion durch, ohne dass er auf das Konzept Gottes angewiesen wäre. Genau betrachtet ist der Gedanke einer Religion ohne Gott also gar nicht so originell, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, und insofern könnte man meinen, dass es sich bei Dworkin um ein bloßes Spiel mit den Begriffen handle.

Doch das wäre zu kurz gegriffen. Religion, so meint Dworkin, ist etwas „Tieferes als Gott“, nämlich: „eine sehr grundlegende, spezifische und umfassende Weltsicht, die besagt, dass ein inhärenter, objektiver Wert alles durchdringt, dass das Universum und seine Geschöpfe Ehrfurcht gebieten, dass das menschliche Leben einen Sinn und das Universum eine Ordnung hat.“

Dworkins Religion bedeutet also eine Verbindung von ethischem Realismus, von Staunen angesichts der Erhabenheit der Welt beziehungsweise des Weltalls und der Überzeugung von ihrer Vernunftmäßigkeit und Verständlichkeit, ihrem inneren Wert. Manche in diesem Sinne religiöse Menschen glaubten darüber hinaus auch noch – zusätzlich, gewissermaßen mit einem metaphysischen Überschuss – an einen Gott. Andere täten das nicht, und zu diesen zählt sich auch Dworkin selbst. In diesem Sinne schließt er an Albert Einstein an, dessen Worte aus der Schrift „Mein Weltbild“ Dworkin eingangs wie folgt zitiert: „Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind, dies Wissen und Fühlen macht wahre Religiosität aus; in diesem Sinn und nur in diesem gehöre ich zu den tief religiösen Menschen.“

Die Differenz von Theisten und (religiösen) Atheisten ist für Dworkin damit im Grunde bereits erschöpfend beschrieben. Mögen die einen in Gott eine ihre religiöse Einstellung begründende und verbürgende Kraft sehen, die anderen diese Werthaltung unabhängig von Gott verstehen, seien beide sich bei allen Unterschieden in der Frage der Existenz Gottes doch in einem – im Wesentlichen – einig: in grundlegenden Wertfragen, in ihrer religiösen Einstellung. Mit Dworkin bleibt so zwar einigermaßen unklar, wozu die Annahme der Existenz Gottes eigentlich gut sein könnte: Ist er nur ein schmückendes Beiwerk der Religion? Oder dient er als Aufhelfer für die schwachen Überzeugungen der moralisch-religiös weniger Aufgeklärten? Oder hat es mit diesem theistischen Gottglauben womöglich eine Bewandtnis, die über den Rahmen des Dworkin’schen Religionsbegriffs und solche Begründungsfunktionen substanziell hinausgeht? Dies alles bleibt bei Dworkin unbeachtet und infolgedessen gerät der Glaube an Gott bei ihm in die etwas dubiose Rolle eines Bündnispartners, von dem man eigentlich nicht recht versteht, was er will. Andererseits kann man wohl diese Differenz Dworkin selbst, dem religiösen Atheisten, kaum zu Last legen. Sie ist für ihn nicht entscheidend. Anscheinend sind seine Überlegungen von dem Hintergrund öffentlicher Konflikte geprägt, in denen militante Atheisten und fundamentalistische Gottgläubige um ihre öffentliche Stellung ringen – dagegen verteidigt Dworkin eine Ökumene, in der neben den Theisten auch Pantheisten und Atheisten ihren Platz finden, solange sie eben von der Objektivität moralischer Werte überzeugt sind. Somit steht Dworkin sowohl den von ihm kritisierten Naturalisten vom Schlage eines Richard Dawkins gegenüber wie auch jenen, die im Namen Gottes bestreiten, ein Atheist könnte ein gutes, moralisches Leben führen oder irgendein relevantes Bewusstsein vom Wahren, Guten und Schönen in der Welt entwickeln. Ob das Gewicht dieser Überlegungen im religiös-weltanschaulich vergleichsweise ermatteten Westen Europas ebenso ankommen kann wie im Zusammenhang der amerikanischen Konstellation, sei dahingestellt.

An die Überlegungen zur Frage eines religiösen Atheismus schließt Dworkin in zwei Kapiteln ähnlicher Länge einerseits eine Diskussion über das Verhältnis der Naturwissenschaften zu der in seinem Sinne religiösen Erfahrung der Schönheit und Erhabenheit der Welt und des Universums an (worin er keinen Widerspruch erkennt). Andererseits widmet er sich der Frage nach der Religionsfreiheit, womit er auch auf das Feld der politischen und der Rechtsphilosophie zurückkehrt. Schließlich folgt noch ein knapper Nachtrag zu Tod und Unsterblichkeit. Wie in allem bleiben Dworkins Überlegungen auch hier sehr knapp, beinahe unausgeführt, und lassen so beim Leser eher Fragen entstehen als dass sie diese beantworteten.

Sein interreligiös irenisches Anliegen, nicht nur zwischen verschiedenen Theismen, sondern gerade auch zwischen Gottgläubigen und -ungläubigen ist zweifellos verdienstvoll. Zusammenfassend liest es sich wie folgt: „Atheisten können Theorien daher im Hinblick auf ihre tiefsten religiösen Bestrebungen im vollen Sinne als Partner akzeptieren. Theisten können anerkennen, dass die moralischen und politischen Überzeugungen der Atheisten auf derselben Grundlage fußen wie die ihren.“

Es bestehe keine unüberbrückbare Kluft zwischen diesen Gruppen, weil es sich „lediglich um eine esoterische wissenschaftliche Meinungsverschiedenheit ohne moralische oder politische Bedeutung handelt“. Aber vermag diese Vorstellung tatsächlich zu überzeugen? Viele, und zwar Atheisten nicht weniger als Theisten, werden die Frage nach der Existenz beziehungsweise Nichtexistenz Gottes kaum als eine moralisch und politisch bedeutungslose empfinden, sondern vielmehr als eine für ihre Identität höchst relevante. Dass sich Konflikte um diese Frage durch die Berufung auf eine geteilte Überzeugung von der Sinnhaftigkeit der Welt und der Objektivität von Werten schlichten lassen könnten – wo doch der Inhalt dieser Überzeugungen, und mehr noch ihre Begründungen, weit auseinanderliegen –, erscheint so fast als eine Naivität. Doch auch in diesem Punkt gilt: Dass Fragen naiv erscheinen, spricht ebenso wenig gegen diese Fragen wie die Tatsache, dass diese Fragen nicht beantwortet werden. Sondern es fordert vorgefasste Meinungen heraus, wie sie etwa die Religion betreffen. Wenn in diesem Punkt Theisten und Atheisten einen Punkt von Verständigung erreichen, wäre nicht wenig gewonnen.

Titelbild

Ronald Dworkin: Religion ohne Gott.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Eva Engels.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
146 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518586068

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch