Der außergewöhnliche Mr. Turner

Mike Leigh porträtiert den großen englischen Landschaftsmaler

Von Dominik RoseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dominik Rose

So gewöhnlich, wie es der lakonische Originaltitel vermuten lässt, ist dieser Mr. Turner wohl nicht gewesen, bedenkt man seinen Ruf als einer der größten Künstler Englands und Wegbereiter des Impressionismus. Und dennoch verrät die Lakonie und Bescheidenheit des Filmtitels – ohne das „Meister des Lichts“ der deutschen Übersetzung – bereits einiges über die Haltung der Künstlerbiografie von Regisseur Mike Leigh, der seines Zeichens wiederum den Ruf eines der größten Regisseure Englands und meisterhaften Chronisten des Lebens zumeist völlig gewöhnlicher Menschen genießt. Sein „Mr. Turner“ ist eine zurückhaltende, episodenhafte Beschreibung der letzten ungefähr zwanzig Lebensjahre William Turners, die auf dramatische Zuspitzungen verzichtet – und dennoch mit einer ausgewogenen Charakterstudie und kunstvoll komponierten Bildern fasziniert.

Bereits in der ersten Szene sehen wir Turner (Timothy Spall) in seinem Element, wie er in der freien Natur ein interessantes Motiv skizziert, eine Windmühle irgendwo in Flandern. Einige Meter entfernt gehen zwei sich angeregt unterhaltende Frauen vorüber, doch der Maler ist ganz in die stimmungsvolle Landschaft vertieft. Diese Momente, allein auf Reisen und unermüdlicher Motivsuche, zeigen einen Menschen, der offensichtlich sehr gut mit sich zurechtkommt. Mit seinen Mitmenschen tut sich Turner da schon schwerer, seinen Vater William senior (Paul Jesson) einmal ausgenommen, der ihn in seinem Atelier unterstützt. Gemeinsam mit der Haushälterin Hannah Danby (Dorothy Atkinson), einer verhuschten alten Jungfer, bewohnen die beiden Turners ein Haus in London. Während die herzliche Art, mit der Turner seinen Vater begrüßt, den gut fünfzigjährigen Helden wie einen schelmischen kleinen Jungen erscheinen lässt, ist der Umgang mit der unglückseligen Hannah Danby, die ihrem Hausherrn unterwürfig ergeben ist, von harschen Anweisungen und gelegentlichen Grabschereien geprägt, die sich die Haushälterin – als einziges Indiz seiner Anteilnahme an ihrer Existenz – demütig gefallen lässt.

Der Film zeichnet ein differenziertes Bild Turners, ohne sein nicht selten barsches und ignorantes Verhalten zu verurteilen. Einerseits ein mürrisches Scheusal, das die eigenen unehelichen Töchter verleugnet und mit Vorliebe ein entsetzliches Grunzen ausstößt, andererseits aber auch ein überraschend sensibler Mensch, den das Schicksal der Unglücklichen und Unterdrückten in der Welt bewegt und der im Herbst seines Lebens eine liebevolle Beziehung zur Witwe Sophia Booth (Marion Bailey) eingeht, welche den grobschlächtigen Turner wiederum von einer ganz anderen, einfühlsamen Seite zeigt. Timothy Spall erweckt seine Figur mit viel Verve und Gespür für die subtilen Zwischentöne so überzeugend zum Leben, dass man ihr sämtliche Widersprüche als natürliche Facetten einer komplexen Persönlichkeit abnimmt. Wenn man ihn auf die Leinwand spucken und mit dem Pinsel wie mit einem Schlachtermesser darauf einstechen sieht, mag man bezweifeln, ob Jackson Pollock weiterhin als legitimer Begründer des Action Painting gelten darf.

Am wohlsten fühlt sich Turner, abgesehen von den kostbaren Momenten allein in der Natur, im Kreise seiner Künstlerkollegen aus der Royal Academy, deren Mitglied Turner bereits als aufstrebender junger Künstler geworden war. Die jährlichen Ausstellungen, zu denen sich die Maler einer interessierten Öffentlichkeit stellten, nutzt Mike Leigh zu einem amüsierten und leicht spöttischem Seitenhieb auf die zeitgenössischen Künstlerszene und ein ebenso vermögendes wie blasiertes Bildungsbürgertum, das selbstgefällige Urteile fällt und Maler nach Lust und Laune gegeneinander ausspielt – also gar nicht so verschieden vom Kulturbetrieb der heutigen Zeit. Kontrastiert werden diese Szenen der gesellschaftlichen Innenschau immer wieder von den beeindruckenden Landschaftsaufnahmen, die sich in Bezug auf Motive und Farbgebung an den Bildern Turners orientieren, ohne sie zu kopieren. Sei es ein Sonnenuntergang in Flandern, die Impressionen des Küstenstädtchens Margate mit seinen auf See dahintreibenden Booten, das in Mondlicht getauchte Herrenhaus Petworth, in dem Turner regelmäßig zu Besuch ist – der Film geizt nicht mit malerischen Einstellungen und einem durch Dekor und Kostüme authentisch eingefangenen Zeitkolorit.

Darüber hinaus geht es aber auch um die bahnbrechenden Veränderungen der Zeit, den Beginn der Industrialisierung, die Turner als Avantgardist mit Begeisterung aufnimmt und in seine Kunst einfließen lässt. Ein kleiner Schleppdampfer, der das alte Schlachtschiff Temeraire zum Ort seiner Verschrottung befördert, oder eine Eisenbahn, die dem wie gebannt am Wegesrand verharrenden Turner entgegenbraust – der Film greift immer wieder geschickt die Entstehungsgeschichte zentraler Werke Turners auf und vermittelt die Faszination, die der Künstler angesichts der technischen Umwälzungen um ihn herum verspürt haben muss. Nur die Erfindung der Daguerreotypie, die den zu Fotografierenden für eine entnervend lange Zeit in eine starre, bewegungslose Position zwingt, ist dem von Dynamik und Geschwindigkeit erregten Turner verhasst – was der Film in einer Schlüsselszene aufgreift, die auch die Unterschiede zwischen der neuen und der alten Kunstform reflektiert.

Im Schaffen seines Regisseurs, den man eher mit zeitgenössischen Sozialdramen aus dem Arbeitermilieu verbindet, mag der Film auf den ersten Blick ein eher ungewöhnlicher Wurf sein, das Ende ist dann aber doch ganz typisch Mike Leigh. In seiner Sympathie für das Schicksal der einfachen Leute lässt er seinen „Mr. Turner“ nicht etwa mit einem dramatischen Begräbnis in der St. Paul’s Kathedrale enden, wo der bereits zu Lebzeiten berühmteste Maler Englands beigesetzt wurde, sondern mit der unscheinbaren Haushälterin Hannah Danby, einer gequälten Seele, die am Ende von einer schweren Schuppenflechte verunstaltet im stillen Kämmerchen hockt, allein und verlassen, und den großen Meister beweint.

Mr. Turner – Meister des Lichts
Regie: Mike Leigh.
Darsteller: Timothy Spall, Dorothy Atkinson, Paul Jesson, Marion Bailey.
Laufzeit: 150 Minuten
Großbritannien 2014

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