Grüße aus Gargantua

Anstatt eines Editorials: Eine einführende Meditation über Christopher Nolans Kinofilm „Interstellar“

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Die größere Halbwertszeit der Literatur

Wer regelmäßig ein Editorial zu so umfangreichen Ausgaben verfassen muss wie denen unserer Zeitschrift, braucht Ideen. Man muss allerdings aufpassen, dass einen die Überlegungen, die man dabei anstellt, nicht zu weit vom Thema wegführen. Genau das kann insbesondere dann passieren, wenn man auf der Suche nach Anregungen ins Kino geht. Versuchen wir es trotzdem einmal wieder damit. Zumal Sie, liebe Leserinnen und Leser, demnächst vielleicht ja sogar ein wenig mehr Zeit als sonst für die Lektüre eines Textes wie diesem hier haben, spätestens jedoch ,zwischen den Jahren’, wie man die seltsame Phase nach Weihnachten nennt.

Also: Wer hätte gedacht, dass in Christopher Nolans aufsehenerregendem Science-Fiction-Film „Interstellar“ die gute, alte Literatur die Hauptrolle spielt? Die Filmkritik hat bereits viel über den Versuch des Regisseurs geschrieben, die Nachfolge Stanley Kubricks anzutreten: „Interstellar“ ist unweigerlich als Hommage an Kubricks berühmten Film „2001: A Space Odyssey“ (1968) rezipierbar. Die zentralen Szenen in Nolans beinahe dreistündigem Mammutwerk spielen allerdings gar nicht im Weltraum, wie bei Kubrick, sondern an den Bücherregalen eines Kinderzimmers.

Der Protagonist Cooper (Matthew McConaughey) gelangt nach einer langen und turbulenten Reise in ein fernes Sonnensystem durch einen dramatischen Sturz in ein Schwarzes Loch mit Namen Gargantua auf geheimnisvolle Weise in eine mehrdimensionale, ins Unendliche gespiegelte Kopie der Bibliothek seiner Tochter Murphy (Mackenzie Foy) zurück. Im Raumanzug findet er sich plötzlich hinter einer endlosen, nur seltsam verschwommen wahrnehmbaren Bücherwand wieder. Zwischen den Lücken in den Regalwänden hindurch vermag er in die Vergangenheit zurückzublicken.

Seit Johann Peter Hebels berühmter Kalendergeschichte aus dem Jahr 1811 nennt man das wohl ein unverhofftes Wiedersehen. Wobei Nolan noch einen Schritt weitergeht und uns eine regelrechte Wiederauferstehung erzählt: Ohne jeden akustischen Kontakt kann der verlorene, kaum gealterte Vater plötzlich durch Raum und Zeit hindurch den eigenen, nach irdischer Zeitrechnung Jahrzehnte zurückliegenden Abschied von seinem Kind noch einmal miterleben. Verzweifelt rufend, versucht er zunächst vergeblich, Kontakt mit seiner Tochter aufzunehmen. Bald jedoch verfällt er darauf, mit Murphy, die schließlich ihrerseits noch einmal als erwachsene Frau (Jessica Chastain) in ihr Zimmer zurückkehrt, mittels wie auch immer übertragener Gravitationsanomalien im Morsemodus zu kommunizieren. So vermag er es, den Zeiger seiner auf dem Bücherregal hinterlassenen und längst stehengebliebenen Armbanduhr wieder in einem gewissen Rhythmus zucken zu lassen. Murphy weiß die Botschaft nach intensiven Studien mit einem begeistert ausgerufenen „Heureka!“ zu entschlüsseln und kennt damit den Masterplan zur Rettung der Menschheit. Mehr noch: Am Ende wird sie ihren Vater, der ihr bei seinem Aufbruch versprach, wieder zurückzukommen, als alte Frau kurz vor ihrem eigenen Ableben tatsächlich noch einmal genau so wiedersehen, wie er sich von ihr verabschiedet hatte – und zwar nicht als erstaunlich gut erhaltenen Toten wie bei Hebel, sondern als lebenden Mann in seinen besten Jahren.

Auch wenn mittlerweile selbst die „Zeit“ in ihren Artikeln – wie es bis dato nur in sogenannten Amazon.de-„Kundenrezensionen“ üblich war – infantile Konsumleser vor sogenannten Spoilern warnt, sei es hier ganz ungeniert für alle diejenigen Feuilleton-Fans ausgeplaudert, die sich noch für das Wie beziehungsweise die ästhetische Konstruktion eines Werks zu interessieren vermögen: Cooper selbst entpuppt sich damit als jener Geist, von dem seine Tochter ihrem ungläubigen Vater vor über 20 Jahren immer wieder erzählt hatte, als ihre Bücher wie von alleine aus dem Regal fielen und der Staub auf dem Boden des Zimmers seltsame Muster zu bilden pflegte. Das Welträtsel wird hier am Ende also gar nicht in fernen Galaxien gelöst, sondern in einer gewitzten cineastischen Umcodierung der „Bibliothek von Babel“ (Jorge Luis Borges): Bestimmte Kombinationen von Zeichen, mit deren Hilfe die Relativität der Zeit endgültig in die Praxis einer Kommunikation überführt werden kann, die den Tod überwindet, erklären sich bei Nolan allein im Angesicht der Literatur – und nicht etwa irgendwo im All, mit spektakulärer Aussicht auf die Jupitermonde.

Das Symbol ist wohl kaum zufällig gewählt: Zwar tritt der bodenständige Cooper im Film nicht gerade als gewiefter Leser auf, aber Christopher Nolan und sein Bruder Jonathan, die das Drehbuch gemeinsam verfasst haben, siedeln die entscheidende Szene der Wiedererkennung – also das, was man seit dem antiken Drama und der Poetik des Aristoteles die Anagnorisis nennt – ausgerechnet im Kosmos einer Bibliothek an. Mehr noch: Nicht etwa digital gespeicherte, sondern materialiter vorliegende, anfassbare Bücher sind es, die in dieser Peripetie, am Wendepunkt des Dramas, die maßgeblichen Hinweise geben. Man muss nicht durch die Galaxien jetten, um unser Universum zu verstehen, bedeutet uns die Szene, sondern man sollte einfach einmal still bei seinen Büchern sitzen bleiben und in alles Ruhe zu durchdenken beginnen.

Nehmen wir Nolans Gleichnis doch einmal ernst: So unwichtig, wie der Wissenschaftsdiskurs unserer Zeit nun schon seit Jahrzehnten tut, nach dessen Maßgaben allein Hirnforscher, Atomphysiker oder Wirtschaftswissenschaftler als Krone der Schöpfung gelten, kann unser Fach – das der Philologie –, also gar nicht sein: Nicht die NASA vermag bei Nolan die Erde zu retten, sondern, wenn überhaupt, vor allem die Rückbesinnung auf das in der Literatur gespeicherte und durch deren Relektüre immer wieder weiterzuentwickelnde Wissen der Menschheit.

Letztlich handeln Science-Fiction-Filme sowieso immer nur davon: Wie in dem wunderbar apokalyptischen Video zu dem Song „Sing For Absolution“ der Band „Muse“, das diese zirkuläre Dramaturgie in nuce parodiert, können Zukunftsgeschichten stets nur von Dingen berichten, die wir bereits kennen oder uns zumindest mittels bereits erfahrener Zusammenhänge erklären können. Es sind gleichnishafte Erzählungen über die Probleme unserer Gegenwart. Sie handeln mittels einer narrativen Umwegkommunikation von einer Realität, aus der wir bei aller Phantasie nicht zu entkommen vermögen: Wenn zum Beispiel Arno Schmidt in seinen Romanen „Die Gelehrtenrepublik“ (1957), „KAFF auch Mare Crisium“ (1960) und „Die Schule der Atheisten“ (1972) Zukunftsszenarien entwarf, so handelte es sich dabei in erster Linie um besonders gewitzte Parodien auf den Kalten Krieg zu seiner Zeit.

Über die konkreten Gegebenheiten in einem Schwarzen Loch lässt sich jedoch nach wie vor nur theoretisch spekulieren. Die albernen Diskussionen über die physikalische Nachvollziehbarkeit der „Interstellar“-Fiktionen um Gargantua, wie sie in dem oben verlinkten „Zeit“-Artikel rekapituliert werden, sind für eine Interpretation von Christopher Nolans Film also schlicht obsolet. Es scheint ja geradezu so zu sein, als ob alle Welt tatsächlich geglaubt hätte, irgendwelche Physiker könnten uns zweifelsfrei erklären, was das Weltall im Innersten zusammenhält – und als ob ein fiktionaler Film die Aufgabe hätte, so etwas korrekt zu dokumentieren. Nicht die Naturwissenschaft vermag schließlich in der erzählten Welt auch dieses Films ,harte Fakten’ zu liefern und die Zeiten zu überwinden, sondern es ist eine geduldige Meditation über die mehrtausendjährige Geschichte der nachhaltigen Fixierung von Zeichen, der eine solche Erkenntnismöglichkeit zugewiesen wird.

Diese Allegorie dürfte auch dem renommierten Editor und Heidelberger Literaturwissenschaftler Roland Reuß gut gefallen, der in einem polemischen Aufsatz über die Gefahren der Digitalisierung und den bleibenden Wert des gedruckten Buchs einmal schrieb: „Die philologische Forschung erzeugt tendenziell Produkte mit anderen Halbwertszeiten als die Medizin oder die Physik, und es lohnt sich sehr wohl, dafür zu kämpfen, daß auch spätere Generationen von ihnen Gebrauch machen können. Eine Sophokles-Ausgabe aus der Druckerei des Henri Estienne ist heute noch wissenschaftlich von Bedeutung (und man braucht, um sie zu lesen, nur Tageslicht), eine Arbeit zur Medizin oder Physik aus derselben Zeit (um 1500) ist nur noch historisch von Belang“.

Zu dieser Ausgabe

Das funktioniert auch in unserer Dezember-Ausgabe wieder so: Während alle Welt besorgt auf Putins Propaganda blickt und von einer drohenden Eskalation in der Ukraine redet, hat unsere Mainzer Komparatistik-Crew eine Schwerpunkt-Rubrik zur Literatur aus Russland für Sie vorbereitet. Wenn unsere Zukunft nicht von neuen Kriegen bestimmt werden soll, dann ist es vielleicht nicht die schlechteste Idee, hier und jetzt mit dem grenzüberschreitenden Lesen zu beginnen. 

Das gilt im Übrigen auch für das zweite Hauptthema der letzten Ausgabe dieses Jahres 2014 – das der Ökonomie: Was die Wirtschaftswissenschaftler seit dem angeblichen Untergang des Sozialismus für den Stein der Weisen hielten, treibt unsere Welt zielsicher in den Ruin. Jene apokalyptische Klimasituation, die in Christopher Nolans „Interstellar“ die katastrophale Ausgangslage für den Versuch markiert, neuen Lebensraum fern unseres Sonnensystems zu suchen, ist (nicht) nur ein filmisches Symbol für das, was uns allen tatsächlich blüht, wenn wir so weiter machen wie bisher. Warum glauben die meisten Menschen immer noch an die säkulare Religion des Marktes und des ökonomischen Wachstums? Warum denkt man, dass dieses offensichtliche Krisensystem alles von ganz alleine wieder richten werde, wenn man es ganz einfach unangetastet lasse? 

Doch lesen Sie selbst: Unsere Ausgabe wird dieses Rätsel sicher nicht zur Gänze lösen, aber vielleicht hält sie dennoch einige neue Ideen für Sie bereit. Damit bleibt uns nur, Ihnen trotz aller Sorgen schöne, besinnliche Feiertage am Bücherregal zu wünschen – egal ob mit oder ohne Astronautenhelm – und natürlich einen guten Start ins Jahr 2015.

Herzlich
Ihr
Jan Süselbeck

Interstellar
Regie: Christopher Nolan
Drehbuch: Christopher Nolan, Jonathan Nolan
Produktion: Lynda Obst Productions, Paramount, Syncopy, Legendary, Warner Bros
Verleih: Warner Bros.
Länge: 169 Minuten
Offizielle Website: https://interstellar.withgoogle.com/

Weitere Filmrezensionen hier