Auf verschlungenen Pfaden
Die Sonette Shakespeares neu übersetzt von Hans Saenger
Von Elisabeth Julie Herrmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseHans Saenger, Jahrgang 1949, legte im September 2012 mit Anschreiben gegen den Tod. Die Sonette die insgesamt 69. Gesamtübertragung dieses Gedichtzyklus vor. Von Beruf kein Anglist, wie er im Nachwort betont, beschäftigte sich Saenger – hauptsächlich durch sein Interesse an der Autorschaftsfrage dazu bewegt – „fast ein Jahrzehnt lang intensiv“ mit den Sonetten William Shakespeares.
Vorangestellt ist den Gedichten eine kurze Einleitung, in der der Autor deutlich macht, dass die Lektüre der Sonette prinzipiell in keiner bestimmten Reihenfolge erfolgen müsse, dass es nicht von Bedeutung sei, ob die Gedichte „von vorne nach hinten oder umgekehrt oder kreuz und quer“ gelesen würden. Allerdings stellt laut Saenger das 144. Sonett den „natürliche[n] Einstieg“ in Shakespeares Sonettzyklus dar, da dieses die Ausgangssituation aller 154 Gedichte beschreibt: Zwei Lieben hat der Dichter, nämlich eine „allem Anschein nach ideelle zu einem schönen blonden Jüngling, eine zweite, alles andere als ideelle, aber zu einer Dame mit dunklem Haar und schwarzer Seele“.
Hans Saenger stellt in seiner Einleitung weiterhin vierzehn Wege vor, die dem Leser eine Hilfestellung für die Lektüre der Sonette von William Shakespeare leisten sollen. In diesen Wegen fasst der Übersetzer jeweils die Gedichte zusammen, die thematisch miteinander verknüpft sind. So ergibt sich beispielsweise für die Sonette 33 bis 35, 40 bis 42, 133, 134 und 144 „Weg 1: Die beiden Lieben des Dichters und ihr Betrug“, die ‚Dark-Lady‘-Sonette 127 und 128 sowie 130 bis 132 werden in „Weg 3: Portrait der Geliebten des Dichters, der sogenannten dark lady“ gesammelt und die Prokreationssonette, 1 bis 17, stellen „Weg 10: Der Dichter beschwört seinen jungen Freund, zu heiraten und Kinder zu zeugen“ dar.
Im ausführlichen Nachwort zu seiner Übersetzung der Sonette von William Shakespeare möchte Hans Saenger seinen Beitrag zur Diskussion um die Autorschaftsfrage leisten. Zunächst wird erläutert, dass man heute nicht wüsste, wer der Verfasser der Shakespeare’schen Werke sei, „weil das weder der Autor wollte, noch die, die seinen Nachlass verwalteten“. Demnach handele es sich bei dem Namen „Shake-Speare“ um ein – besonders angesichts der erotischen Gedichte – äußerst treffend gewähltes Pseudonym. Der Geschäftsmann aus Stratford-upon-Avon, der im Geburts- und Sterberegisters des Städtchens belegt ist, könne nicht mit dem Dichter Shakespeare, dessen literarische Werke uns überliefert sind, in Verbindung gebracht werden, da jeglicher Beweis dafür fehle, dass diese beiden William Shakespeares ein und dieselbe Person waren. Der Übersetzer stellt weitere Argumente gegen die Stratford-These vor, muss jedoch zugeben, dass unter den Anti-Stratfordianern weitgehend Uneinigkeit herrscht, wer der ‚wahre Schöpfer‘ der Shakespeare’schen Werke sei (im Gespräch seien hier zirka 40 mögliche Anwärter). Hans Saenger selbst hält Edward de Vere, Earl of Oxford, für den geeignetsten Kandidaten, dessen Biographie er ausführlich vorstellt und mit Shakespeares Stücken in Verbindung bringt. Zum Abschluss des Nachwortes zu seiner Sonett-Übersetzung erlaubt sich der Verfasser Mutmaßungen über die Identität des jungen Freundes (hier sei William Herbert, Earl of Pembroke genannt) sowie die der ‚Dark Lady‘, die er in Mary Fitton erkennt.
Neue Argumente hinsichtlich der Verfasserschaft der Shakespeare’schen Werke und der Widerlegung der Stratford-These bringt Hans Saenger nicht (vielmehr fasst er die aktuelle Forschungssituation knapp zusammen), hat dies aber auch nicht als Anspruch an sich und das Nachwort zu seinem Sonett-Band.
Die Sonette selbst sind in der Ausgabe Anschreiben gegen den Tod. Die Sonette zweisprachig wiedergegeben, wobei nicht deutlich wird, welcher Ausgabe der englische Text folgt. Shakespeare verfasste seine Sonette bis auf drei Ausnahmen (99, 126, 145) im englischen Muster, das von Sir Thomas Wyatt und Henry Howard, Earl of Surrey eingeführt worden war. Diese Struktur von drei kreuzgereimten Quartetten und einem abschließenden, paargereimten Couplet wird vom Übersetzer beibehalten. Auch den Rhythmus des Originals überträgt Saenger ins Deutsche: Seine Sonettübertragungen sind durchgehend in fünfhebigen Jamben verfasst, wobei er seine Verse aber häufig um eine elfte Silbe erweitert.
Um eine Vorstellung von Hans Saengers Übersetzung der Sonette von William Shakespeare zu bekommen, soll an dieser Stelle das erste, den Sonettzyklus eröffnende Sonett, das auch den Beginn von Saengers „Weg 10: Der Dichter beschwört seinen jungen Freund, zu heiraten und Kinder zu zeugen“ markiert, genauer betrachtet werden.
Sonnet 1
From fairest creatures we desire increase,
that thereby beauty’s rose might never die,
But as the riper should by time decease,
His tender heir might bear his memory;
But thou, contracted to thine own bright eyes,
Feed’st thy light’s flame with self-substantial fuel,
Making a famine where abundance lies,
Thyself thy foe, to thy sweet self too cruel.
Thou that art now the world’s fresh ornament
And only herald to the gaudy spring
Within thine own bud buriest thy content,
And, tender churl, mak’st waste in niggarding.
Pity the world, or else this glutton be,
To eat the world’s due, by the grave and thee.
Sonett 1
Von schönsten Wesen wünschen wir Vermehren,
dass so der Schönheit Rose niemals stirbt,
dass wir im Spross noch ihr Gedächtnis ehren,
wenn die Gereifte einst die Zeit verdirbt.
Doch du, beschränkt auf deinen Strahleblick,
nährst mit dem Öl der Eigensucht dein Feuer,
machst Hungersnot aus überreichem Glück,
bist selbst dein Feind, dir selber nicht geheuer.
Du Schmuck der Welt, du ihre frische Zier,
du Bote, der allein den Lenz begrüßte,
begräbst die Blüte, die du trägst, in dir,
machst geizig, süßer Schuft, dein Selbst zur Wüste.
Erbarme dich, bevor du dich verzehrt,
lass nicht dem Grab, was aller Welt gehört.
Mit der fast wörtlichen Übertragung der ersten beiden Verse des ersten Quartetts reiht sich Hans Saenger in eine lange Riege von Übersetzerinnen und Übersetzern ein, die diese Verse ebenfalls wortgetreu übersetzt haben (teilweise in veränderter Satzstellung), wie beispielsweise Karl Friedrich Ludwig Kannegießer,[i] Johann Gottlob Regis,[ii] Friedrich Bodenstedt[iii] oder Sophie Heiden.[iv] Wie zahlreiche seiner Vorgänger bildet auch Hans Saenger die Alliteration „from fairest“ im Deutschen in der Phrase „Wesen wünschen wir“ nach, was den programmatischen Charakter der Aussage dieses ersten Verses des Eröffnungssonetts unterstreicht. Die den dritten Vers einleitende Konjunktion „but“ teilt das Quartett in zwei Teile: die ersten beiden Verse beziehen sich im Ausgangstext auf „beauty’s rose“, die Verse drei und vier auf „the riper“. Saenger übernimmt diese Zweiteilung des Originals nicht, sondern bezieht das gesamte erste Quartett auf die Rose. Ein Bedeutungsverlust ergibt sich durch die Übersetzung von „heir“ als „Spross“, wodurch der Übersetzer eher im Bild der Rose als traditionelles Bild in der Liebeslyrik bleibt, als die Thematik von Nachkommen und Erben, die Shakespeare in den ersten 17 Sonetten behandelt, explizit anzusprechen. Weiterhin vertauscht Saenger die Reihenfolge der Verse drei und vier. Vers vier des Ausgangstexts bildet der Übersetzer in einem Finalsatz nach, wodurch er in Zusammenspiel mit Vers zwei eine Aufzählung der Begründungen für die Aussage in Vers eins erhält.
Das zweite Quartett beginnt bei Shakespeare mit der Anapher „but“ (V. 3/5) und der direkten Ansprache des jungen Freundes. Zwar wird die Anapher im Deutschen nicht wiedergegeben, aber durch die exponierte Stellung der Alliteration „doch du“ am Anfang dieses Verses verdeutlicht Saenger sowohl den Effekt der direkten Anrede des jungen Freundes als auch die Antithese zum ersten Quartett, in dem die Zeugung von Kindern als Norm dargestellt wird. Eine Bedeutungsverengung tritt durch die Übersetzung von „contracted to“ als „beschränkt auf“ ein, da hier die Doppeldeutigkeit des Englischen „beschränkt auf, verlobt mit“ verloren geht. Näher am Ausgangstext ist die Übertragung des sechsten Verses: Hier gibt Hans Saenger sowohl das Bild der Flamme als auch das Bild der Nahrung, das Shakespeare in diesem Quartett einführt und das im Couplet wieder aufgenommen wird, überzeugend wieder. Die in diesem Quartett verstärkt verwendeten Pronomen „thy“, „thou“, „thine“, „own“, „self“ versucht der Übersetzer so gut wie möglich auch in seinen deutschen Text einzubeziehen und bringt somit die Anreden und Ermahnungen an den Jüngling recht gut zum Ausdruck. Shakespeares sprachliche Gestaltung des letzten Verses dieses zweiten Quartetts mit der Verwendung lauter einsilbiger Worte ist im Deutschen so nicht nachzubilden. Ist die erste Vershälfte mit der Übersetzung von „thyself thy foe“ mit „bist selbst dein Feind“ noch gut gelungen, wird der zweite Teil des Verses in seiner Bedeutung allerdings sehr abgeschwächt: „to thy sweet self too cruel“ wird von Saneger lediglich als „dir selber nicht geheuer“ übertragen.
Shakespeares das dritte Quartett übergreifende Syntax wird in der vorliegenden deutschen Übertragung beibehalten. Der Übersetzer nimmt ebenso die direkte Anrede des jungen Freundes, die bereits im zweiten Quartett betont dargestellt wurde, in diesem Quartett wieder auf. Jedoch kommt im Deutschen die negative Konnotation, die im zweiten Vers dieses Quartetts im englischen Original durch „only“ und „gaudy“ hervorgerufen wird, nicht zur Geltung, was hauptsächlich daran liegt, dass „gaudy“ im Deutschen wegfällt – wohl aus Gründen der Silbenzahl: Nur durch den Relativsatz „der allein den Lenz begrüßte“ verbraucht Saenger bereits acht der in diesem Vers zur Verfügung stehenden elf Silben. Das Bild der Rose aus dem ersten Quartett wird hier erneut aufgegriffen und der Übersetzer gibt auch Shakespeares Alliteration „bud buriest“/ „begräbst die Blüte“ wieder. Der vierte Vers ist in der Übertragung allerdings nur eine oberflächliche Paraphrase: Deutet Shakespeare hier das neutestamentliche Gleichnis von den drei Talenten an, geht diese Anspielung in Saengers Version völlig verloren.
Im Gegensatz zu den drei Quartetten, die zwar teilweise nicht die vielschichtigen Bedeutungen des Shakespeare’schen Originals ins Deutsche transportieren, aber in summa gelungen sind, sind im Couplet nur noch Spuren des Ausgangstextes zu erkennen. Shakespeare fasst in seinem Couplet die Argumentation der drei Quartette zusammen und betont noch einmal die Mahnung an den jungen Freund, Kinder zu zeugen. Saengers Zeilen geben diese Aussage nicht wieder – die bei Shakespeare logische Verbindung zwischen den beiden Versen des Couplets wird im vorliegenden deutschen Text nicht deutlich, die Zeilen stehen unverbunden nebeneinander. Wohl auf Grund der vorgegebenen Silbenzahl von zehn pro Vers wird der erste Halbvers des Couplets nur unvollständig mit „erbarme dich“ übersetzt – „the world“ fällt im Deutschen weg – was zur Folge hat, dass das sprachliche Mittel der Wiederholung, das die Ermahnung an den Freund in ihrer Eindringlichkeit noch einmal betont, nicht möglich wird. Der Abschlusssatz des Sonetts, der sich über die zweite Vershälfte des ersten Verses und den zweiten Vers des Couplets hinzieht, deutet bei Saenger die Aussage des Originals nur an. Zwar nimmt der Übersetzer Shakespeares Bezug auf das Nahrungs-Bild aus dem zweiten Quartett auch in seiner Übersetzung auf, allerdings schwächt er „glutton“ mit „verzehrt“ ab und der Bezug zum dritten Quartett muss auf Grund der vorher nicht übersetzten Anspielung auf das biblische Gleichnis von den drei Talenten notwendigerweise entfallen.
Betrachtet man die deutsche Version des ersten Sonetts von Hans Saenger zusammenfassend, lässt sich feststellen, dass einige Stellen gut gelungen sind: Besonders die von Shakespeare verwendeten Bilder transportiert der Übersetzer überzeugend ins Deutsche und auch die Übertragung von rhetorischen Figuren – vor allem des Klangbereichs – ist positiv hervorzuheben. Allerdings gehen in Saengers Übertragung zahlreiche inhaltliche Aspekte des Ausgangstextes verloren. Gerade im Couplet, dem die größte inhaltliche Bedeutung des gesamten Sonetts zukommt, wird im Deutschen lediglich eine grobe Vorstellung vom Aussagegehalt des Originals vermittelt, wodurch das Verspaar als insgesamt schwächster Teil der Übertragung zu bewerten ist. Trotz dieser Mängel ist Hans Saengers Publikation seiner deutschen Versionen der Sonette von William Shakespeare ein wichtiger Beitrag zur Rezeption derselben, da der Übersetzer durch sie die öffentliche Diskussion um diese Gedichte verdeutlicht. Hans Saenger setzt mit der Vorlage von Anschreiben gegen den Tod. Die Sonette die Tradition der Sonettübertragungen von Nichtfachleuten fort und beweist zugleich, dass die Sonette William Shakespeares auch außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses eine große gesellschaftliche Relevanz haben.
Anmerkungen:
[i] „Sonette nach Shakspeare“, Polychorda, 1 (1803), 52-58; 115-122; 338-343; 567-570.
[ii] „Sonnette“, in: Shakspeare-Almanach. Hrsg. von Gottlob Regis (Berlin: Veit und Comp., 1836).
[iii] William Shakespeare’s Sonette in Deutscher Nachbildung von Friedrich Bodenstedt (Berlin: R. Decker, 1862).
[iv] Vgl. Christa Jansohn, „Oft hatt’ ich dich als Muse angefleht“, ShJb, 134 (1998), 154-163.
|
||