Aufzeichnungen eines Hofmeisters, mustergültig ediert
Johann Christian Müllers „Lebens Vorfälle und Neben-Umstände“ gewähren einen einmaligen Einblick in den Alltag in Adelshäusern des 18. Jahrhunderts
Von Heinrich Bosse
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSo wie die Moderne Familie und Arbeitswelt voneinander geschieden hat, so hat sie auch Familie und Schule getrennt. Ein fremder Lehrer im Schoß der Familie ist jetzt eine unerträgliche Vorstellung. Doch vor der Verstaatlichung des Schulwesens zur Zeit der Französischen Revolution holte man sich gern den Lehrer ins Haus. Auch wenn der Dichter Lenz in seinem Hofmeister-Drama eine verächtliche Figur daraus macht, das Hofmeisterdasein war eher normal für einen Akademiker, der nach dem Studium eine Anstellung suchte. Wohl kein Dokument des 18. Jahrhunderts berichtet darüber so präzise und ausführlich wie die hier anzuzeigende Lebensgeschichte. Johann Christian Müller unterrichtete fast zehn Jahre in Adelshäusern Schwedisch-Pommerns, erst in einem Haushalt ohne Vater, dann in einer tyrannisch regierten Familie, dann in einem Haushalt ohne Mutter, aber mit sechs Schwestern. Dieser Querschnitt durch vormoderne Familienverhältnisse gibt auch ein Bild seiner unterschiedlichen Arbeits- oder vielmehr Lebensverhältnisse, denn seine Präsenzpflicht umfasste 24 Stunden. Bisweilen wurde seine Arbeit durch den Hausvater kontrolliert, bisweilen durch ein Examen von auswärtigen Beurteilern evaluiert, bisweilen überhaupt nichts dergleichen. Müller verlangte und erhielt regelmäßig ein eigenes Pferd und eigene Bedienung, nur das eigene Zimmer ohne darin wohnende Schüler war ein Problem. Die schwierige Zwischenposition zwischen Herrschaft und Dienerschaft meisterte er mit sozialem Feingefühl – und mit einem hochentwickelten System von Gefälligkeiten. Extrem unwohl, geradezu als Gefangener, fühlt er sich allerdings im Machtbereich eines Hausherrn, der während seiner Abwesenheiten eine Bediente in seinem Bett schlafen lässt, was die Söhne alsbald ausnutzen.
Seine Aufzeichnungen hatte Müller seinerzeit mit Einträgen in Randspalten markiert, auch diese sind in der überaus sorgfältigen Edition erhalten. Dazu kommen sehr notwendige Sach- und Worterklärungen, zwei Register und ein rühmenswertes Nachwort der Herausgeberin. Sie ordnet die norddeutschen Besonderheiten in den kulturgeschichtlichen Kontext der vorrevolutionären Gesellschaft ein. In ihr waren Studierte, die eine berufliche Existenz suchten, zwar auch angewiesen auf eigenes Können und eigene Kenntnisse, aber mindestens ebenso sehr auf Familienbeziehungen, Empfehlungsbriefe, guten Leumund, Patronage. Davon wird selten gesprochen. Dagegen tut Müller das mit einer großen Ausführlichkeit, die sich manchmal in kleinste Kleinigkeiten verliert (zuletzt auch in Tagebuchnotizen) aber auf eine Weise in den Alltag des 18. Jahrhunderts einführt, welche, wie gesagt, nahezu einmalig ist.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen