Das Getöse der Zeit

Der Sound des 20. Jahrhunderts ist unverkennbar, und da man ihn fleißig konserviert, bleibt er für immer erhalten. Gerhard Pauls und Ralph Schocks Band zum „Sound der Zeit“

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Vergangenheit war stumm, zumindest für die Nachgeborenen, bis zu jenen technischen Erfindungen, mit denen Geräusche nicht nur übertragbar, sondern auch konservierbar wurden. Seitdem tönt die Vergangenheit. Ein lärmendes Tohuwabohu, das mit der Zeit immer mehr anschwillt, und dabei seine jeweilige Periode immer erkennbar bleiben lässt.

Das 20. Jahrhundert ist eine geräuschvolle, eine lärmende Zeit, auch wenn wir uns daran weitgehend gewöhnt zu haben scheinen. Die 1910er-Jahre: Der Kriegssound prägt alles in jenen Jahren, was davor oder danach geschieht (die doppelte Ausrufung der Republik 1918 fällt dabei – auch in diesem Band – unter den Tisch). Die 1920er-Jahre, wir erkennen sie in jedem Fall, Charleston, die Comedian Harmonists, die Kampfgesänge, die Stille der anstehenden Arbeitslosen, das Musizieren mit Schallplatten, Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“ – dieses Jahrzehnt hat einen unverkennbaren Sound.

Nicht anders die 1930er-Jahre mit Aufmärschen, dem 1. Mai 1933, der das Siegel auf den Triumph der Nazi-Partei und zugleich eine Leistungsschau der Telefunken ist (die das allerdings den Nazis vorbehält, Sound ist auch Politik, gleich zwei Beiträge in dem Band „Sound der Zeit“ widmen sich diesem Thema). Der Zweite Weltkrieg mit den marschierenden Kolonnen, den Stukas (die einen eigenen Beitrag erhalten), die stummen Blicke der fast verhungerten KZ-Opfer und den Leichenbergen, die die Nazis hinterließen. Ein sehr stiller, aber doch ein Lärm.

Schließlich die 68er, die Protest- und Rockära bis hin zum Soundtrack der Deutschen Wiedervereinigung und dem Dudellärm deutscher Warenhäuser. Lärm allenthalben, aufgezeichnet wird er auch. Der Sound des Jahrhunderts hat hohen Wiedererkennnungswert und er hat sich unverkennbar im Laufe des Jahrhunderts entwickelt.

Das hat zwei Seiten, das Soundprofil der Dekaden und ihre Aufzeichnung. Gerhard Paul und Ralph Schock, samt ihren Kolleginnen und Kollegen, die einen großvolumigen, über 600 Seiten umfassenden Band zum „Sound der Zeit“ vorlegen, beschäftigen sich allerdings vor allem mit dem ersten Thema, man muss sagen, mit einer unerhörten Vielzahl von Themen, die geradezu einen akustischen Flickenteppich bilden, aus dem das Soundprofil einer Zeit herausgehört werden kann.

Warum das überhaupt relevant ist? Dem Lärm kann man nicht entgehen, und Geräusche sind unsere ständigen Begleiter. Dabei haben sie sich zweifelsohne geändert. Seit dem Beginn des Jahrhunderts wird das Klappern der Pferdehufe mehr und mehr vom Motorengeräusch der Autos ersetzt (das allerdings leiser sein soll). Industrieller Lärm wird mehr und mehr reduziert, das Hämmern und Brausen der Industrieanlagen und Hochöfen gehört heute der Vergangenheit an. Industrie 4.0 ist eine leise Industrie – mit dem Lärm sollen sich andere abgeben müssen. Und er wird verlagert.

Denn die Verkehrsdichte nicht nur in der Stadt hat massiv zugenommen (wie man lesen kann, leiden nicht zuletzt die Betonbrücken der 1960er Jahre darunter, dass das Verkehrsaufkommen sich vervielfacht hat). Die Gesellschaft hat in großem Maße mobil gemacht, sie hat den Austausch von Waren intensiviert, mehr noch, sie hat die Straße, den Transport an die Stelle der Lagerung gesetzt. Damit hat sie stille Räume fast vollkommen eliminiert.

Auch wenn der damalige „Merkur“-Herausgeber Karl-Heinz Bohrer seinerzeit den Deutschen eine Sehnsucht nach Idylle unterstellte und die mangelnde Urbanität der deutschen Großstädte beklagte – dieses Deutschland ist laut, und es ist flächendeckend laut, weil es eine flächendeckende Industriegesellschaft ist.

Die Gegenbemühungen sind nicht minder intensiv: Eine technische Anordnung gegen Lärm begrenzt die zulässige akustische Belästigung etwa in den Ruheräumen von Siedlungen und insbesondere in der Nacht. Aber auch hier gibt es eine denkwürdige Umorientierung: Im Außenbereich ist der zulässige Lärmeinfall deutlich höher als in Siedlungsräumen. Der Einsiedler muss mehr Lärm hinnehmen als der Bewohner eines wirtschaftlich ansonsten verödeten Dorfes. Das Land ist eben nicht mehr still – warum auch? Und am Ende geht’s auch nicht um Ruhe, sondern um Zumutbarkeit.

Denn jeder will an den Segnungen der entwickelten Konsumgesellschaften teilhaben. Wohlstand, Mobilität, Gesundheit, Vergnügen und Reiselust. Wer reisen will, verursacht Lärm. Wer sich vergnügen will, der setzt sich Lärm aus, und wer auf der Suche nach sich selbst ist, der sucht mit Musik. Musik ist der zentrale Ausdruck der Jugendkulturen seit den 1950er-Jahren (spätestens), und eben auch der Konsumkultur. Die Selbstbefreiung des konsumierenden Menschen aus der formierten Gesellschaft braucht ihr Medium – und die Musik ist ihr zentrales Medium, wie sie eben auch Ausdruck von Lebensstil und Persönlichkeit ist (und sein soll). Die Diversifizierung der Lebensstile bedeutet eben auch eine Differenzierung der Konsumkulturen und der – um es auf den hier vorzustellenden Band zu fokussieren – Geräuschprofile. Eine Überlegung, die man freilich im Band ein wenig vermisst.

Dennoch ein spannendes (ja, jetzt ist es auch mal geschrieben), ein faszinierendes Projekt, das – wenn man den Herausgebern glauben darf – wie manch gescheitertes Steuersparprojekt auf einem Bierdeckel erstmalig skizziert wurde. Soll wohl heißen: Schickt die deutschen Wissenschaftler ins Bierhaus, damit ihnen illuminierte, hier wohl besser hochtönende Projekte und Ideen kommen. Fast zu beneiden.

Herausgekommen aus diesem Bierdeckel ist ein prächtiger Band, der nach der Vorpublikation zum Jahresende 2013 bei der Bundeszentrale für politische Bildung nun auch bei Wallstein als allgemein bekömmliches Werk erschienen ist. Ein solches Projekt ziert jeden Wissenschaftler und jeden Verlag – und inspirierend ist es für den geneigten Leser allemal.

In knapp 80 Beiträgen wird das fließende Sound-Profil dieses deutschen Jahrhunderts entworfen. Dass es gelegentliche Abstecher ins befreundete westliche Ausland gibt, zeigt vielleicht nur, dass es ebenso unmöglich ist, das Thema auf Nationalkulturen zu reduzieren wie genau das nicht zu tun. Da mögen Beiträge zur berühmtesten Rede Martin Luther Kings („I have a dream“) oder zu Joan Baez und Bob Dylan ein bisschen isoliert dastehen, sie zieren den Band in jedem Fall.

Wenngleich es recht deutsch zugeht, haben wir dennoch – allgemeiner – das akustische Bild einer Industriekultur vor uns, in dem sich Tendenzen erkennen lassen, die sie mit anderen Industriekulturen gemein hat. Die Populärmusik ist in größeren Teilen international – wieso allerdings das sich selbst überbietende Wacken zu der Vermutung führt, dass sie ihre leisen Seiten eliminiert habe? Selbst die Harten haben ihre Balladen, aber sie sind in der diversifizierten Konsumkultur auch eben nur ein Cluster. House wäre ein anderes lautes, und die vitale Klassikrezeption eben ein weiteres, um in die Extreme zu gehen.

An dieser wie auch an anderen Stellen lässt sich erkennen, dass die Herausgeber in ihrer Themenwahl wie die Beiträger in ihren Ausarbeitungen ihre Vorlieben und Lücken haben. Die immer wiederkehrenden Schüsse an der innerdeutschen Grenze bekommen eine allzu große Bedeutung, die angesichts der beiden Kriege und der anderer politischer und kultureller Soundphänomene übertrieben scheint. Maschinen, Flieger und Autos fehlen fast völlig oder finden sich auf Nebenschauplätzen wieder.

Dagegen ist die Engführung von Lärm und medialer Inszenierung ein Thema, das größere Aufmerksamkeit verdient hätte. Gerhard Paul verweist in seinem Beitrag zum Schlachtenlärm des Ersten Weltkriegs darauf, dass dessen akustische Signatur für die heutige Rezeption in großem Maße von der medialen Aufbereitung um 1930 bestimmt wird. Auch der Sound wird der medialen Re-Inszenierung unterworfen.

Dass es einen Beitrag zum „Sound der postmodernen Großstadt“ gibt wie auch einen zum Lärmprofil der Großstadt um 1900, ist hilfreich, auch der zur „Sinfonie der Großstadt“ in den 1920ern. Ralph Schocks Verarbeitung des Großstadtlärms in der Literatur der 1920er Jahre (und vor allem bei Döblin) hätte aber einen kleinen Seitensprung zum Auftakt von Musils „Mann ohne Eigenschaften“ verdient gehabt.

Die Entwicklung des politischen Lieds bleibt ein wenig deskriptiv – wie auch Beschreibung im Vordergrund steht, Erklärung oder eine These zur Entwicklung manchmal gut getan hätte: So stehen die Beiträge zum Kampflied der 1920er-Jahre, zu den Singer-Songwritern und zum Sound der 68er unverbunden nebeneinander. Die Privatisierung des Musikkonsums bleibt außen vor, wie auch die Entwicklung der Populärmusik als Soundgeschichte – wenn auch nur thesenhaft – eine hübsche thematische Ergänzung gewesen wäre. Eine Abwehr der Kommerzialisierung der Rockmusik, wie sie Matthias S. Fifka versucht, wäre zudem nicht notwendig gewesen. Die Rockmusik ist dem Kommerz unrettbar verloren, und wird sich ihm dennoch immer wieder aufs Neue entziehen. Stattdessen findet sich eine in ihrer Ernsthaftigkeit schon komische Verteidigung von John Cages „4‘33‘‘“. Aber dass viereinhalb Minuten inszeniertes Schweigen derart viel Aufwand provozieren, um sie als musikalisches Werk zu behaupten – wen kann das wundern.

Ergänzungen gäbe es also viele. Was Schock und Paul hier vorlegen, ist zwar profiliert genug, sollte aber zu  Weiterführungen, theoretischen und konzeptionellen Vertiefungen und selbstverständlich zu Widerspruch anregen.

Einen Seitenpfad, der im Band angespielt wird – die Verbindung von Text, Klang und Musik –, betritt denn auch Anna Souksengphet-Dachlauer mit ihrer Studie zum Einsatz von Heiner Müller-Texten in den Kompositionen von Heiner Goebbels. Heiner Goebbels – als Mitbegründer des „Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters“ eine Größe der Protestkultur der 1970er-Jahre („Vier Fäuste für Hanns Eisler“, ja!) – gehört heute wohl zu den wichtigsten Repräsentanten der Neuen Musik und des neuen Hörspiels, das – wie im Rückgriff auf die Frühformen des Hörspiels – die akustische Inszenierung in den Vordergrund stellt (was auf den Berliner Hörspieltheoretiker Friedrich Knillli zurückgeht). Texte Heiner Müllers sind im Werk Goebbels’ beinahe omnipräsent. Anna Souksengphet-Dachlauer bezieht sich allein auf acht Werke von Goebbels, in denen Müller-Texte verarbeitet worden sind, darunter „Die Horatier“, „Die Befreiung des Prometheus“ und „Wolokamsker Chausee I-V“. Nur ein Teil des Werks liegt als frei zugängliche Aufnahme vor, wobei der Verfasserin zum Teil auf Aufnahmen zurückgreift, die von den Sendern zur Verfügung gestellt wurden, auf deren Aufträge die Arbeiten zurückgehen.

Zentral ist für Anna Souksengphet-Dachlauer nicht zuletzt, welchen Charakter die Stücke haben, Hörspiele, Hörstücke oder eigenständige Kompositionen und der Verwendungen von Textmaterialien Heiner Müllers. Die Verfasserin weist dabei darauf hin, dass es bislang an analytischen Ansätzen zur Beschreibung von Text-Ton-Verarbeitungen mangele, wie sie in der Zusammenarbeit Müller/Goebbels vorliegt. Der Rückzug auf den Terminus des „Hörstücks“, das als Genre zwischen Rundfunkarbeit und Musik angesiedelt ist, erlaubt es freilich, Klang und Text als gleichwertig anzusehen. Zugleich erlaubt es dem Komponisten, sein Werk an beide Verwertungszusammenhänge anzubinden, an die Hörspielsparte und die Musikreproduktion, die vor allem im Rundfunk ihren Platz finden, wenngleich in verschiedenen Formaten und auf verschiedenen Sendeplätzen. Das Hörstück bedient mithin also beides, und wie die CD-Produktionen Goebbels‘ zeigen, sind sie auch im Rahmen einer privatisierten Konsumkultur rezipierbar.

Text wird damit in den Soundkontext eingebunden. Wie die Verfasserin bemerkt, sind Sprache, Geräusch und Musik als akustische Elemente jeweils gleichwertig eingesetzt. Dabei seien, so die Verfasserin, Müllers Texte jeweils als Ausgangspunkt und nicht nur als Materialteil verwendet worden, was den Text freilich wiederum privilegiert. Goebbels’ Kompositionen wären demnach als Arrangements oder Aufführungsvarianten von Mülllers Texten anzusehen. Dagegen lässt sich einwenden, dass die vorliegenden Stücke eher als Kompositionen präsentiert und – was freilich nur ein schwaches Argument ist – entsprechend unter dem Namen des Komponisten vermarktet werden. Souksengphet-Dachlauer stützt dies mit dem Hinweis auf die Verdichtung, die die Texte in der Verarbeitung durch Goebbels erfahren hätten.

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Anna Souksengphet-Dachlauer: Text als Klangmaterial. Heiner Müllers Texte in Heiner Goebbels' Hörstücken.
Transcript Verlag, Bielefeld 2010.
477 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783837613391

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Titelbild

Gerhard Paul / Ralph Schock (Hg.): Sound der Zeit. Geräusche, Töne, Stimmen - 1889 bis heute.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
608 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783835315686

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