Das Logbuch eines Flaneurs der Gedanken

Adam Zagajewski schreibt über „Die kleine Ewigkeit der Kunst“

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tagebuch ohne Datum – diesen Untertitel trägt Adam Zagajewskis Buch in der deutschen Übersetzung. Er ist treffend gewählt, und er führt gleich mitten hinein in die Gattungsfrage. Zagajewski haben wir in den letzten Jahren vor allem als Dichter und Essayisten (zuletzt in der Sammlung Verteidigung der Leidenschaft) kennen gelernt. In Die kleine Ewigkeit der Kunst pflegt Zagajewski nun aber ein ganz eigenes Genre, das Merkmale von Tagebuch und Essay miteinander verbindet. Man könnte es als inneres Logbuch eines Flaneurs bezeichnen, und gerade seine formale Gestalt macht bereits einen beträchtlichen Teil vom Reiz dieses Buches aus.

Nur selten und jeweils eher beiläufig verweist Zagajewski auf Realia und Eregnisse außerhalb des Texts, die es einem erlauben, Erzählgegenwart und -ort als Rahmen des Buches auszumachen. Als Leser müssen wir fast schon rekonstruieren, dass das schreibende Ich sich in Krakau aufhält und sein Tagebuch im Dezember 2006 mit einem Konzertbesuch einsetzt. Datumsangaben finden wir in der Folge keine, jedenfalls nicht über den einzelnen (kürzeren oder längeren) Abschnitten, die im Übrigen auch nicht durch Überschriften näher gegliedert werden. Gleichwohl dringt aber immer wieder durch, dass im Hintergrund die Zeit tickt, dass die Jahreszeiten einander abwechseln.

Zagajewski schweift indes vor allem von der Gegenwart ab – und greift weit aus: In die Vergangenheit seiner Familie, die aus Lemberg stammte und sich nach dem Krieg in Gleiwitz ansiedeln musste. Er erinnert sich an seine Verwandten, etwa an den Vater (und übrigens mehr als an die Mutter). Er kehrt zurück in die früheren Jahre seines eigenen Lebens, die er zum Teil in Paris und in den USA verbracht hatte. Und er kommt auf seine zahlreichen Reisen, nach Italien oder in die Schweiz, zu sprechen. Doch Zagajewski erweist sich zuallererst als ein Flaneur der eigenen Innenwelt: Er reflektiert über seine literarischen und philosophischen Lektüren, er denkt über Musik nach, ein wenig auch über Malerei, und er stellt grundsätzlich die Frage nach der conditio humana des heutigen Menschen. Vor allem aber, und das verbindet sein Buch wiederum mit den früheren Essays, sucht Zagajewski das Wesen der Kunst zu ergründen, und ganz besonders dasjenige der Dichtung.

Vom Alltag lässt sich Zagajewski zwar nicht ablenken, aber doch anregen. Das „wahre“ Geschehen draußen in Wirklichkeit dient ihm lediglich – aber immerhin – als Anlass zum Nachdenken. Er wahrt denn in seinen Überlegungen stets auch einen bestimmten Abstand zu Moden und Strömungen, die kommen und gehen. Wenn man unbedingt will, kann man Zagajewski hier einen gewissen Konservativismus vorwerfen. Man kann das aber auch einfach als gelassene Distanz (oder distanzierte Gelassenheit) auffassen. Denn gerade das ist letztlich das ansprechendste Moment an diesem Buch: Hier ist nämlich einer am Werk, der noch den Begriff „Muße“ kennt und zu würdigen weiß. Zagajewski nimmt sich Zeit (zur Not auf Kosten der Wirklichkeit) und schafft sich Raum.

Zagajewskis innere Spaziergänge akzeptieren keine Einschränkung von außen. Die Außenwelt gibt das Stichwort, aber dann mäandrieren die Gedanken des Autors in alle möglichen Richtungen. Simone Weil, Emil Cioran, Gottfried Benn, Czesław Miłosz, Joseph Brodsky, Kavafis und viele andere Gestalten haben auf den Buchseiten ihren Auftritt. Dann wiederum stellt Zagajewski Gedanken über das Taschenbuch an, dessen Erfindung er bewundert. In der Pariser U-Bahn verfolgt er, was für Bücher die Menschen mit sich tragen, was sie lesen. Das bringt ihn schließlich zu der erfrischenden Frage, die er ganz nebenbei formuliert: „Wer schreibt endlich eine tiefgründige Doktorarbeit über Lesezeichen?“

Letztlich kann man in Zagajewskis Tagebuch ohne Datum aber besonders zwei große Themen ausmachen (die freilich für die Leser dieses Autors keineswegs neu sind), die in gewisser Hinsicht die Quintessenz des Buches bilden: Der Dichter beharrt nachdrücklich auf der Bedeutung von Kunst und Literatur ­– und selbstverständlich ganz im Besonderen: der Poesie. Und er versucht immer wieder zu umreißen, was für ihn das Wesen der Dichtung ausmacht. Ein gelungenes Gedicht ist für Zagajewski letztlich ein epiphanisches Erlebnis, ein Augenblick der Präsenz des Transzendenten in der Wirklichkeit, ein Augenblick „des Überschwangs, der kurzzeitigen Gewissheit, des Lichts, des Glaubens“. Ein Moment, der nicht dauern kann, der aber lohnt und entlöhnt. – Man mag hier ein gewisses Pathos erkennen, das dem einen oder anderen vielleicht etwas unzeitgemäß vorkommt. Doch man kann Zagajewskis Verständnis der Dichtung auch für einen machtvollen Gegenentwurf zur Diktatur der totalen Gegenwart halten, wie sie uns derzeit vorgegeben wird. Man muss als Leser freilich selber die nötige Muße aufbringen, die Bereitschaft, die Gegenwart hinter sich zu lassen, seinen Rhythmus zu verlangsamen, um sich auf dieses Buch einlassen zu können. Doch reiche Belohung ist garantiert: Zagajewski innere Wanderschaft ist stets äußerst anregend, und dies nicht nur dann, wenn er – was oft vorkommt – aphoristisch verdichtet.

Bei aller Weltgewandtheit weiß Zagajewski doch auch um seine polnischen Wurzeln. Vielsagend ist etwa diese Stelle: „Alles deutete darauf hin, dass meine zarte Mutter eher für ein Leben in einem der ruhigeren Kantone der Schweiz geschaffen war als für den aufgezwungenen Schnellkurs in neuster Geschichte in unserem Teil Europas.“ Was hier nur angedeutet wird – die schwierige polnische Geschichte des 20. Jahrhunderts – wird anderswo näher ausgeführt. Auch bei Gesprächen mit Lesern wird Zagajewski seine eigene Bedingtheit bewusst. So berichtet er von zwei beinah identischen Szenen in Paris und Holland, als nach einer Lesung jeweils jemand an ihn herantrat und in etwa sagte: „Von euch Dichtern aus Osteuropa erwarten wir etwas anderes als von unseren resignierten Künstlern, wir erwarten Kraft, Energie, Inspiration, denn Ironie haben wir im Überfluss, wir haben ein enormes Reservoir an Ironie, von euch möchten wir etwas anderes, Glaube, Enthusiasmus“.

Im polnischen Original hat der Autor sein Buch mit Lekka przesada überschrieben, auf Deutsch: Leichte Übertreibung. So hat Zagajewskis Vater, der als Ingenieur eher ein technisch-rational denkender Mensch war, die Beschäftigung seines Sohnes einmal bezeichnet. Man hätte diese gelungene Definition in der deutschen Übersetzung auch belassen können. Denn sie bringt knapp auf den Punkt, was auch der Sohn schließlich unterschreiben kann. Und ob dies nun zeitgemäß ist oder nicht: Adam Zagajewski plädiert für einen Enthusiamus in der Kunst, „und zwar auf beiden Seiten: Diejenigen, die Kunst schaffen, aber auch ihre Empfänger wären ratlos, wenn es ihn nicht gäbe“.

Titelbild

Adam Zagajewski: Die kleine Ewigkeit der Kunst. Tagebuch ohne Datum.
Übersetzt aus dem polnischen von Bernhard Hartmann und Renate Schmidgall.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
320 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783446246126

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch