Plädoyer für eine eigenständige medienwissenschaftliche Disziplin

Das von Jens Schröter herausgegebene „Handbuch Medienwissenschaft“ zeigt Vielfalt und Stärken eines jungen Forschungsfeldes auf

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer die universitäre Entwicklung der Wissenschaftsdisziplinen in den letzten Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum verfolgt hat, kann nicht umhin, Verschiebungen im Sinne neuer Forschungsgebiete und Wissensdomänen konstatieren zu müssen. Ein eindeutiger Gewinner sind sicherlich die Medienwissenschaften, die entweder als Teilgebiet anderer, etablierter Wissenschaftsdisziplinen oder als eigenständiges Forschungsfeld Ressourcen, Studiengänge und Interesse der Studierenden generiert haben. Dies ist im Kontext einer gesellschaftlichen Orientierung, die mit den Begriffen Medien- und Informationsgesellschaft umschrieben wird, auch nicht weiter verwunderlich. Neue Medientechnologien sowie die Omnipräsenz massenmedialer Kommunikationsformen im Alltag generieren das Bedürfnis nach wissenschaftlicher Systematisierung und kritischer Begleitung von Entwicklungen, die zum Teil ungeahnte und ungewollte Auswirkungen auf soziale Strukturen und Umgangsformen evozieren. Folglich stellt medienwissenschaftliche Forschung als interdisziplinäres Unterfangen der Kultur-, Sozial- und Kommunikationswissenschaften, ferner der Informatik und Ökonomie ein Terrain dar, das auf divergenten Wegen Analysen, Interpretationen und Logiken einer heterogenen und wenig überschaubaren Lage bieten kann.

Im traditionellen Medium eines Handbuchs mit dem richtungsweisenden Titel „Handbuch Medienwissenschaft“ stellen 81 ausgewiesene Expertinnen und Experten in 75 Beiträgen unter der Herausgeberschaft von Jens Schröter, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Siegen, die Disziplin vor. Vier thematische Einheiten, die der Herausgeber einleitend als „Liste von ‚dynamischen‘ Kontroversen“ charakterisiert, gliedern die Darstellung: „Medienbegriff und Medienwissenschaft“, „Medientheorien“, „Einzelmedien“ und „Schnittstellen“. Ergänzt wird der Band durch ein Personenregister.

Bereits in der „Einleitung“ umreißt der Herausgeber die Wissenschaftsgeschichte des Gegenstandes und hebt mehrere Aspekte pointiert hervor: Da ist zunächst die klassische Frage, ob es die Medienwissenschaft überhaupt gebe, respektive ob nicht eine plurale Konzeption der Realität besser gerecht werde. Ferner thematisiert Schröter den gewählten Schwerpunkt, der auf der deutschsprachigen Diskussion liege und deshalb einer kulturwissenschaftlichen Medienwissenschaft verbunden sei. Darüber hinaus zieht sich die „mangelnde disziplinäre Einheit“ wie ein roter Faden durch viele Beiträge – offensichtlich sucht die Medienwissenschaft noch nach ihrem Nukleus. Zwei Zitate aus der lesenswerten Einleitung Schröters beleuchten dies stimmig: „So kann schon die Emergenz der Medienwissenschaft überhaupt als Effekt der Medienentwicklung beschrieben werden.“ Und an anderer Stelle wird konstatiert: „Ein Handbuch ist in diesem Sinne eine Art Karte für ein unübersichtliches Gelände.“

Eröffnet wird diese „Karte“ – um Schröters Bild aufzugreifen – durch eine Darstellung des Medienbegriffs aus historischer Perspektive. Es zeigt sich, dass Stefan Hoffmanns einleitende Bemerkung wegweisend ist: Die Medienwissenschaft sei ein „Paradebeispiel für eine postmoderne Disziplin, die ständig über den Tellerrand blickt, ohne den eigenen Teller genau zu kennen“. Dennoch gelangt Hoffmann zu einer paradoxen Bestimmung, was Medien – also der Gegenstand des Handbuchs – sind: „Da sich […] das Medium, das Wahrnehmung erst ermöglicht, der Wahrnehmung entzieht, ist eine exakte wissenschaftliche Begriffsbestimmung äußerst schwierig“. Fortgeführt wird diese vage Gegenstandsbeschreibung durch einen Überblick zu „Medienwissenschaften und ihre Geschichte“. Rainer Leschke zeigt Perspektiven und Dynamiken der Medienwissenschaft unter Berücksichtigung ihrer historischen Verortung auf. Die dabei zutage tretende Vielfalt spiegeln auch die diversen medienwissenschaftlichen Fachgesellschaften wider: Abkürzungen wie beispielsweise „GfM“, „DGPuK“ oder „SCMS“ stehen für Vereinigungen, die genuine Wege der Erschließung medialer Kontexte gewählt haben und wählen. Ebenso existieren für Studierende und Forscher diverse „Einführungen in die Medienwissenschaft“, die oftmals mit Universitätsstandorten assoziiert sind. Sven Grampp startet in seinem Beitrag zu einer „Rundreise“ nach Berlin, Lüneburg, Hamburg, Paderborn, Köln und Siegen sowie Weimar und stützt die These eines „heterogenen Forschungsfeldes“.

Nicht von ungefähr werden im zweiten Teil des Handbuchs 23 „Medientheorien“ vorgestellt: Die Palette reicht von „phänomenologischen“ Theorien, über „kritische“ bis zu intermedialen. Hier zeigt sich eine Stärke der Handbuchkonzeption, weisen die Artikel zu höchst unterschiedlichen Theoriekonzepten einen sehr homogenen Aufbau auf, der eine schnelle Orientierung erleichtert: Beschreibung und Einordnung des jeweiligen Theorieansatzes, zentrale Konzepte und Theoretiker sowie Probleme beziehungsweise Desiderate und Wirkungen sind in der Regel verständlich dargestellt.

Im dritten Teil stehen die Einzelmedien im Fokus. 22 Medien werden nach einer kurzen historischen Darstellung ihrer spezifischen Entwicklung hinsichtlich der Einzelmedientheorien und relevanter medienanalytischer Methoden erschlossen. Es finden sich so heterogene Medien wie „Diagramm/Diagrammatik“, „Geld“, „Comics“ „Film“, „Radio“ bis hin zu „Quantencomputer“. Ein leichtes Übergewicht der sogenannten Neuen Medien lässt sich konstatieren, wie dies bereits einleitend Jens Schröter betont hat: „Angesichts ihrer drastisch gestiegenen Bedeutung wurde den digitalen Medien […] besonderer Raum eingeräumt.“

Der vierte Teil des Handbuchs versucht, „Schnittstellen“ zwischen Nachbardisziplinen und der Medienwissenschaft herzustellen – einerseits interdisziplinär, anderseits transdisziplinär. Es finden sich Bezüge und Gemeinsamkeiten mit Fächern wie Theologie, Philosophie, Geschichte, Psychologie, Ökonomie und Pädagogik, um nur wenige der 27 dargestellten Bereiche aufzuführen. Ein Beispiel, das die Herangehensweise beleuchtet, liefert der lesenswerte Beitrag von Heinz Moser zur „Medienpädagogik“. In sieben Schritten zeigt der Züricher Wissenschaftler, wie kontrovers und spezifisch Medien als Gegenstand der pädagogischen Diskussion wahrgenommen und analysiert werden. Leitbegriffe sind dabei Medienerziehung, Mediendidaktik, Medienkompetenzen und ihre Förderung, Media Literacy und Medienbildung.

Zusammenfassend kann man Jens Schröter und den Autorinnen und Autoren des Handbuchs zugestehen, dass sie die klassischen Funktionen der Textsorte stets im Blick haben: Handbücher sollen Orientierung geben, den aktuellen Forschungsstand referieren und resümieren, Perspektiven für weitere Forschungen aufzeigen, ferner Forschungsansätze und -methoden systematisieren und gewichten. Dies gelingt in der Regel überzeugend, wobei das Personenregister einige Akzente und Vorlieben der deutschen Medienwissenschaft offen legt: Marshall McLuhan, Adorno, Benjamin, Derrida, Foucault, Kittler, Latour und Luhmann haben die höchste Referenzdichte und lassen vice versa die Fundamente der Medienwissenschaft erahnen.

Titelbild

Jens Schröter (Hg.): Handbuch Medienwissenschaft.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2014.
571 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783476024121

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