Vom großen Lutherischen Narren
Thomas Neukirchens neue Edition von Thomas Murners Reformationssatire (1522) enthält erstmals auch eine Übersetzung
Von Herbert Jaumann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas sechzehnte Jahrhundert ist gerade in Deutschland eine große Zeit der Satire, vor allem in Versen und in deutscher Sprache und oft in Verbindung mit Bildern in Form von Holzschnitten. Am bekanntesten und erfolgreichsten war die Narrensatire mit Sebastian Brants Narrenschiff (Basel 1494) als ein Bestseller des frühen Buchdrucks, neben dem Lob der Torheit des Erasmus von Rotterdam (zuerst 1511), dem viel anspruchsvolleren und noch erfolgreicheren, weil in lateinischer Prosa verfassten und europaweit lesbaren Werk (unter dem Titel Laus stultitiae oder Encomium moriae). Beide Texte sind nach wie vor in mehreren guten Ausgaben und Übersetzungen leicht zu beschaffen. Die Konjunktur der Satire hing mit den durch die Reformation ausgelösten akuten Irritationen und Konflikten im besonderen zusammen, und im allgemeinen mit der Fülle der sozialen und moralischen Krisen seit dem vorausgehenden Jahrhundert, die die Kehrseite der europäischen Expansion im Zeitalter der Entdeckungen und des Umsturzes gültiger Weltbilder waren.[1] Aber dann auch damit, dass die Absicht besonders nahelag, mit einer so ausgesprochen moralischen und moralkritischen, dabei mit drastischen und sehr unterhaltsamen Mitteln ausgestatteten Literaturgattung wie der Satire breitere Schichten, den „gemeinen Mann“, wie man damals sagte, zu erreichen. Viele, der größte Teil dieser Satiren sind vergessen oder nur in Bibliotheken zugänglich, darunter einige aber auch online. Von den wenigen, die durch Editionen und fachliche Erläuterungen meist des 19. oder 20. Jahrhunderts erschlossen sind, zählt die 1522 in Straßburg gedruckte Verssatire Von dem grossen Lutherischen Narren, wie ihn Doktor Murner beschworen hat etc. zu den berühmtesten. Wie dem Titel zu entnehmen ist, handelt es sich um eine antireformatorische Schrift eines gelehrten Autors, mit Luther als Zentralfigur. Wenn man bedenkt, dass die Wahrnehmung des jungen Wittenberger Professors in der Schlüsselrolle eines deutschen ‚Reformators‘ um 1522 erst höchstens zwei Jahre alt ist, stark befördert durch sein Auftreten auf dem Reichstag zu Worms von 1521 und den Ereignissen in dessen Folge (im Gegensatz jedenfalls zu dem weit überschätzten Thesenanschlag von 1517), dann wird die publizistische Funktion der Satire als aktuelles, öffentlichkeitswirksames Nachrichtenmedium deutlich, das gut mit den illustrierten Flugblättern und Flugschriften vergleichbar ist, nicht nur weil diese sich nicht selten ebenfalls satirischer Mittel bedienen.
Murners Narrensatire war bisher auch dadurch privilegiert, dass sie seit langem innerhalb einer Kritischen Gesamtausgabe der deutschen Schriften ihres Autors vorliegt,[2] wie sie nur ganz wenigen Autoren des 16. Jahrhunderts zuteil wurde wie etwa Ulrich von Hutten, wenn auch wie üblich ohne Übersetzung. Wie jeder weiß, der einmal in der Originalfassung der Bibelübersetzung Luthers zu lesen versucht hat, ist das Frühneuhochdeutsche heute nur noch schwer verständlich. Den Text Murners zum erstenmal mit einer Übersetzung ins heutige Deutsch und einem neu erarbeiteten Kommentar herausgegeben zu haben, ist deshalb das Hauptverdienst der Edition des Aachener Germanisten Thomas Neukirchen, dessen Leistung aus diesem Grund großes Lob verdient.
Es existieren zwei bei Grüninger in Straßburg erschienene Drucke, A- und B-Redaktion genannt, von denen der erste Ende 1522 vom Rat der Stadt beschlagnahmt wurde, ohne dass aber das Erscheinen des zweiten im folgenden Jahr behindert worden wäre. Neukirchen legt den Druck der B-Redaktion seiner Ausgabe zugrunde und bietet Murners Text weitgehend in sogenannter diplomatischer Wiedergabe, nur Abbreviaturen oder offensichtliche Verschreibungen sind aufgelöst. Die Übersetzung findet man jeweils auf der Seite gegenüber, sie folgt dem Wortlaut des Originals so nah wie möglich, die Zeilenbrüche zwischen den Versen sind beibehalten, nicht aber die Metrik (vierhebige Jamben) und die Paarreime. Als Verständnishilfe für den Text links daneben dürfte das völlig ausreichen. Dem Textteil folgt ein 32-seitiger, ausführlicher, aber nicht allzu detaillierter Zeilenkommentar, der auch die nötigen (nicht zahlreichen) textkritischen Angaben, Quellenbelege (nicht alle) sowie auch einige Hinweise zur Lektüre enthält. Vor allem aber sind eine Reihe falscher Lesarten und andere Mängel in der Ausgabe Merkers (1918) und dessen Kommentar verbessert, ohne dass Merkers Edition jedoch (der die A-Redaktion zugrunde legt) durch diesen Neuansatzzu ersetzen wäre.
Das Nachwort schließlich versammelt einige Aspekte der neueren Rezeptions- und Editionsgeschichte des Werkes, übt auch manche einleuchtende Kritik an Fehleinschätzungen und nennt Desiderate der Forschung. Vieles daran ist richtig und informativ, insgesamt sind diese Bemerkungen aber doch, von dem etwas fahrigen und unprägnanten Stil abgesehen, oberflächlicher und skizzenhafter, als man erwarten darf. Es fehlt etwa jede These über die den jeweiligen Mängeln zugrundeliegenden Ursachen. Dazu dürfte in vielen Fällen eine reformationsgeneigte Parteilichkeit großer Teile der älteren germanistischen und historischen Forschung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gehören, die sich Luther in jedem Fall näher fühlte als einem aggressiven Franziskanertheologen aus dem Elsaß. An der noch heute mangelhaften Forschung über andere Reformationskritiker lässt sich diese Tendenz immer wieder feststellen, etwa über Johannes Cochläus. Murners Werk ist dagegen vergleichsweise noch stark beachtet.
Auf den letzten Seiten des Nachworts jedoch kippt Neukirchen gleichsam ohne Vorwarnung aus der historisch-kritischen Spur seines Räsonnements und wartet ganz unvermittelt mit Thesen über eine angebliche Modernität der Murner’schen Satire auf, die, zurückhaltend ausgedrückt, schwer nachzuvollziehen sind. Angesichts der zu Tötungsphantasien gesteigerten Aggressivität seiner Satire sei Murner damit, so meint der Verfasser schließen zu dürfen, „tatsächlich an ihrem Ende angelangt“ – und das heiße, „dieser poetologische Verlust von literarisch gestaltbarer Sinnhaftigkeit“, seine Ankunft am „poetologischen Abgrund“ [Klappentext] weise ihn „als einen Text der kommenden Moderne“ aus. Er sei „am ‚degré zéro de l’écriture‘“ angelangt, heißt es mit einem Buchtitel von Roland Barthes aus dem Jahr 1953. „Und so ist denn Thomas Murner mit seiner Beschwörung der Narrheit ‚Reformation‘ als verhüllender Formation des Nichts [die Formel nach Foucault] im Begriff der Freiheit grandios und gar nicht rückwärtsgewandt gescheitert.“ Eine solche abschließende Diagnose wird nicht im mindesten aus einer Interpretation des Textes – dazu ist sie zu unvermittelt aus der Luft gegriffen – noch aus einschlägigen Kontexten bei Autoren wie Derrida, Barthes, Foucault, sogar „Heidegger oder [!] Jean-Paul Sartre“ gewonnen. Hier macht es sich einer zu leicht und versucht sich im Feuilletonstil dürftigster Art. Bis zur Flucht in den Derridadaismus. Ist es schon so weit gekommen mit der Literaturwissenschaft?
[1] Über die Vorgeschichte unterrichtet sehr lehrreich Karl Georg Zinn: Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. und 15. Jahrhundert. Opladen: Westdeutscher Verlag 1989.
[2] Thomas Murners Deutsche Schriften mit den Holzschnitten der Erstdrucke. Unter Mitarbeit von Gustav Bebermeyer, Eduard Fuchs, Paul Merker, Victor Michels, Wolfgang Pfeiffer-Belli, Meier Spanier herausgegeben von Franz Schultz, 9 Bände, Straßburg: Trübner u. Berlin/Leipzig: de Gruyter 1918-1931 (Kritische Gesamtausgaben Elsässischer Schriftsteller des Mittelalters und der Reformationszeit). Reprint Straßburg: Trübner 1990. Vom grossen Lutherischen Narren wurde von Merker ediert und kommentiert, als Band 9, der 1918 offenbar noch in Straßburg erschienen ist.
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