Mädchenhafte Grenzüberschreitungen

Die Österreicherin Ela Angerer erzählt in ihrem Debütroman ihr Leben „Bis ich 21 war“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Erst wenn es wehtut, wird es wirken“: So lautet in Ela Angerers Debütroman der „Glaubenssatz“ der heranwachsenden Ich-Erzählerin. Man darf ihn als Reaktion auf ihre, rein materiell gesehen, von Geburt an bestens gepolsterten Lebensumstände deuten. Diese verbessern sich noch einmal radikal, als ihre aufstiegsfreudige Mutter den gut verdienenden Gatten gegen einen französischen Multimillionär eintauscht, den „Cadillacfahrer“, wie er lapidar genannt wird.

Wegen ihm muss das Mädchen von seinem zehnten Lebensjahr an auf einem Schloss leben. Und zwar überwiegend allein, abgesehen von einer jüngeren Schwester und diversen Bediensteten: von den rasch wechselnden Kindermädchen bis zur schlosseigenen Näherin. Dass Letztere nur wenig zu tun hat, liegt daran, dass die Mutter mit dem Cadillacfahrer dauernd unterwegs ist: wenn nicht auf Kreuzfahrt im Mittelmeer, so in Biarritz oder auf den Seychellen beim Bridge mit Omar Sharif.

Mit Blick auf die Ich-Erzählerin also ein klassischer Fall von Wohlstandsverwahrlosung, in der österreichischen Provinz der 1970er-Jahre. Ihre mit kaviargefüllten Kellern gesegneten Lebensumstände heizen den bei Adoleszierenden ohnehin üblichen Hang zu existenziellen Grübeleien zusätzlich an. Die Protagonistin vertieft sich in Kafka und Pascal und sinniert in ihren „Kierkegaard-Momenten“ über den Sinn des Lebens und der Frage, was einmal aus ihr werden soll.

Der autobiografische Coming-of-Age-Roman lässt die Antwort darauf, soviel kann verraten werden, zwar offen, aber auch das Schlimmste befürchten: Er verliert seine Heldin mit 21 Jahren heroinabhängig in Paris aus den Augen. Dagegen wurde aus der Österreicherin Ela Angerer, Jahrgang 1964, nach, wie sie in Interviews bekennt, ähnlichen Irrungen und Wirrungen eine Journalistin und Fotografin und nun eben auch Romanautorin. Als solche vermag sie mit ihrem gefällig zu lesenden Debüt jedoch nur halb zu überzeugen. Brav hangelt sich ihre sich erinnernde Ich-Erzählerin am chronologischen Faden des fortschreitenden Lebensalters entlang („In meinem fünfjährigen Kopf“, „Ich war dreizehn“ et cetera). Dabei stellen die Beschreibungen von Fotografien eine Art Leitmotiv dar. Dass aber die Fotos im Lauf der Jahre ihren Farbton ändern oder irgendwann ihren Rand verlieren, wie die Ich-Erzählerin bemerkt, simuliert lediglich Bedeutung, wo gar keine ist.

Überzeugend fällt die Schilderung der luxuriös-desaströsen Familienverhältnisse aus: Dass für die Ich-Erzählerin, der von der Mutter bereits im Kindergarten eine spätere Nasen-OP nahegelegt wird, schon früh Drogen, von Marihuana bis LSD, zu einer Art „Sport“ werden, ist wenig überraschend. Zumal in einem Haushalt, in dem sich die Mutter, sofern anwesend, am meisten um die richtige Lagerung ihrer Pelzmäntel sorgt und ihre Glückspillen wie Smarties herumliegen lässt.

Hinzu kommt eine von Kindheit an vorhandene Disposition zu Wahrnehmungsveränderungen: von als berauschend erlebten Farbexplosionen vor dem Einschlafen bis hin zu, wie weiland bei Malte Laurids Brigge, dem Eindruck lebendig werdender Möbel. Und ein Drang zur Selbstbeschuldigung und -bestrafung. Nur schwer zu ignorierende innere Stimmen befehlen dem Mädchen Ekelprüfungen, darunter das Trinken von Hundepisse.

Die zweite Gegenwelt, in die sich die Ich-Erzählerin flüchtet, ist die der Sexualität. Nach der Entdeckung des „Wunders“ der Masturbation verführt schon die Acht- oder Neunjährige ihre Ballettfreundinnen. Die zarten Schilderungen kindlicher Erotik wie das die Mädchen erregende spielerische Tauschen von Kleidung und Wäsche gehören zu den interessanteren Passagen von Angerers Romans, der seine Protagonistin allerdings auch das Missbrauchsopfer eines lüsternen Großvaters werden lässt.

Wovor die Erwachsenen prompt die Augen verschließen: „Während sich alle Eltern bürgerlich entrüstet zeigten, falls unsere mädchenhaften Grenzüberschreitungen doch einmal ans Licht kamen, kümmerten sie sich nicht im geringsten um die Grenzüberschreitungen der Erwachsenen gegenüber uns Kindern.“ Eine wichtige Einsicht der Ich-Erzählerin über das Verhältnis von Eltern und Kindern, deren Beobachtungen ansonsten aber leider recht altklug daherkommen.

Ihre eskalierenden Eskapaden verschaffen der Protagonistin im zweiten Romanteil einen Platz in einem strengen Luxusinternat für höhere Töchter („Wenn Eltern ihre Kinder fortgeben, dann in der Hoffnung, dass damit die Zeit überbrückt wird, bis diese endlich zur Vernunft kommen.“). Hier soll nun, verkündet vollmundig der Klappentext, die Ich-Erzählerin lernen, „dass es das Böse wirklich gibt“. Was sich aber als weibliche Internatsgeschichte nach dem Muster von Robert Musils „Törleß“ ankündigt („In Wirklichkeit wurde hier das Dunkle institutionalisiert. In Wirklichkeit hätte mir von Anfang an klar sein müssen, dass hier der Ort war, an dem ich für mein Schlechtsein bezahlen würde“), entpuppt sich am Ende als literarischer Knallfrosch: Nicht nur, dass die Ich-Erzählerin auch dort bald ausgiebig Zeit für Sex und Drogen findet, auch die Falschbeschuldigungen einer Mitschülerin vermögen ihr nichts anzuhaben. So gesehen hätte es ruhig ein wenig mehr weh tun dürfen.

Titelbild

Ela Angerer: Bis ich 21 war. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2014.
192 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783552062542

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