Gewalt und Hoffnung nach dem Krieg

Ian Buruma erzählt in „’45. Die Welt am Wendepunkt“ mit globalem Blick von der Nachkriegszeit

Von Holger EnglerthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Holger Englerth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Schriftsteller Ian Buruma, der vom Magazin „Foreign Policy“ zu den 100 wichtigsten Denkern der Welt gezählt wird, hat mit seinem neuen Buch ’45. Die Welt am Wendepunkt eine Kriegsgeschichte nach dem Krieg vorgelegt. Eines seiner wesentlichen Verdienste liegt darin, deutlich zu machen, dass ein offizielles Kriegsende keineswegs ein Ende der Gewalt bedeuten muss. Insbesondere der erste Teil „Befreiungskomplex“ erinnert an die Grausamkeiten, die weiterhin begangen wurden. Ob kanadische Soldaten in den Niederlanden ihre Waffen bereits gefangengenommenen deutschen Offizieren für die Exekution von Deserteuren in den eigenen Reihen liehen, in Frankreich, Italien und Griechenland der Zwist zwischen Linken und Rechten mittels Lynchmorden oder Massenerschießungen weitergeführt wurde oder in Algerien koloniale Konflikte in Massenmorde mündeten, Burumas eigentliches Ziel scheint es zu sein, an die Opfer der Gewalt zu erinnern. Im Falle der ethnischen Säuberungen und Racheakte, die in Polen und der Tschechoslowakei gegen den deutschen Bevölkerungsanteil stattfanden, ohne dass dabei nach Schuld und Unschuld des Einzelnen gefragt wurde, schildert Buruma das Geschehen zwar auch nicht ohne Mitgefühl mit den Opfern, kommt aber nicht umhin, darauf hinzuweisen, dass die Schilderungen von Betroffenen „von einer besonderen Uneinsichtigkeit gegenüber fremdem Leid getrübt“ waren, also vor allem gegenüber den Opfern des Holocaust.

Die zeitliche Begrenzung des Buches auf ein Jahr wird durch eine Ausweitung des Raumes ausgeglichen. Die Nachkriegszeit Asiens erfährt die gleiche Beachtung wie die Europas, standen doch auch hier die ersten Nachkriegsmonate viel zu oft unter dem Zeichen der Rache. Insbesondere in Indonesien hinterließ die Kapitulation Japans eine von niemandem kontrollierbare Situation, die „das größte Blutbad in der Geschichte Südostasiens“ zur Folge hatte. Chinesen, Eurasier („Indos“), Molukken und Niederländer gehörten zu den Opfern der „permudas“, die aus ehemaligen Mitgliedern von Milizen unter japanischer Führung oder Jugendlichen, darunter sowohl Studenten, Fabrikarbeiter als auch Dörfler, bestanden. Im Kreislauf der Gewalt folgte die britische Vergeltung auf dem Fuß.

Im Teil „Trümmerbeseitigung“ widmet sich Buruma unter anderem den Bemühungen der Alliierten, die besiegten faschistischen Gesellschaften zu „entgiften“. Dass das nicht durchgehend gelang, kann als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Die Gründe, die die Sieger manch fragwürdige Entscheidung fällen ließen, sind aber durchaus wert, verfolgt zu werden. McArthur, der Oberkommandierende in Japan, zum Beispiel „wollte eigentlich den allmächtigen Shogun für den symbolischen Kaiser spielen“; nicht zuletzt deshalb unterblieb eine kritische Untersuchung der Rolle des Kaisers im Krieg. Buruma ist in seinen Wertungen in diesen Fragen oft sehr differenziert. Seine Schilderung des ersten Kriegsverbrecherprozesses im Pazifikraum gegen General Yamashita Tomoyuki, der für das Massaker in Manila, angerichtet von der japanischen Armee kurz vor Eroberung durch die Amerikaner, verantwortlich gemacht wurde, bringt seine Zweifel an der Verantwortung des nach einem Todesurteil Hingerichteten sowie am rechtmäßigen Ablauf des Prozesses deutlich zum Ausdruck. Dass dagegen einer der schlimmsten japanischen Kriegsverbrecher, der Arzt Ishii Shirō, durch dessen Menschenversuche Tausende einen entsetzlichen Tod fanden, gänzlich straflos blieb, ist für Buruma ein weiteres Beispiel für die teils deprimierend verfehlte Aufarbeitung der Geschichte.

Der dritte und letzte Teil verhandelt unter dem Titel „Nie wieder“ die Zukunftshoffnungen und ersten Pläne einer Welt, die alles daran setzen wollte, dass sich das Geschehene nicht wiederholt. Die Mobilisierung während des Krieges hatte den einzelnen Soldaten nicht zuletzt ermöglicht, verschiedene Kulturen und Gesellschaften kennenzulernen: Die britischen Soldaten kamen beispielsweise nicht umhin, festzustellen, dass die amerikanischen GIs weitaus besser von ihren Vorgesetzten behandelt wurden als sie selbst. Zugleich war es aber auch die funktionierende Planwirtschaft, die im Krieg in Großbritannien eingeführt worden war, die den Wahlsieg Clement Attlees über Winston Churchill, der sich für eine Rückkehr zum Vorkriegsliberalismus eingesetzt hatte, ermöglichte.

Buruma meint zwar in seinem Vorwort, er „glaube nicht recht an die Idee, es ließe sich aus der Geschichte viel lernen, jedenfalls in dem Sinn, dass das Wissen um frühere Verblendungen ähnliche Torheiten in der Zukunft verhindern könnte“, muss später jedoch konzedieren, dass die Wiederaufnahme der Idee eines vereinten Europas nach dem Krieg in eine historisch einmalige Zeitspanne des Friedens für den Kontinent mündete. Der soziale Wohlfahrtsstaat und die Menschenrechte können ebenfalls als Vermächtnis der Nachkriegshoffnungen verstanden werden.

Ein einziges Jahr zum Gegenstand der Darstellung zu machen, ist ein riskantes Unternehmen, liegt im Querschnitt doch die Gefahr, Ursachen und Entwicklungen aus dem Blick zu verlieren. Wohl deshalb hält Buruma diesen Ansatz auch nicht konsequent durch: Seine Geschichtserzählung umfasst selbstverständlich auch die Jahre des Krieges und die Zeit bis in unsere Gegenwart. Diese – zuweilen etwas unscharfen – Ausblicke gelten vor allem Großbritannien und Japan, wodurch der globale Ansatz des Buches unterlaufen wird. Auch die Auswahl des Dargestellten gerät häufig unter dem Verdacht des Willkürlichen, wird doch nie so recht klar, nach welchen Kriterien sie getroffen wird. Und – ohne Zweifel oder Misstrauen den ausgeführten Geschichten entgegen bringen zu wollen – selten hat man so sehr die weiterführende Fußnote vermisst. (Nur wörtliche Zitate sind in den Anmerkungen ausgewiesen.)

Es hat einen guten Grund, dass in einigen Rezensionen zu Burumas Buch auf Tony Judts Standardwerk Geschichte Europas (Postwar) verwiesen wird. Judt ist seinem Thema schlicht gerechter geworden. Dennoch ist die Lektüre von Burumas Buch kein Fehler: Viele der überzeugend klaren und konzentrierten Darstellungen und Analysen von Judt werden durch Burumas hochdramatische Erzählungen mit emotionaler Relevanz und Tiefe ergänzt. Nicht zuletzt deswegen, weil Buruma an vielen Stellen nicht die Akten und Politiker, sondern Schriftstellerinnen und Schriftsteller, wie Simone de Beauvoir, Alfred Döblin, Benoîte Groult, Nosaka Akiyuki oder Carl Zuckmayer, zu Wort kommen lässt. ’45. Die Welt am Wendepunkt ist ein hervorragendes Buch, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie vielfältig, leid- und hoffnungsvoll die conditio humana nach dem Zweiten Weltkrieg war, und zugleich ein Anreiz, jenen Details nachzuforschen, die Burumas globaler Ansatz notgedrungen übergehen musste.

Titelbild

Ian Buruma: ’45. Die Welt am Wendepunkt.
Aus dem Englischen von Barbara Schaden.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
411 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783446247345

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