Elegante Körperparade
Victor Wittes Debütroman „Hier bin ich“ schreibt die Popliteratur mit den Mitteln des realistischen Romans fort
Von Matthias Friedrich
„Mein Name ist Leo Baalberg.“ So könnte ein Roman mit dem Titel „Hier bin ich“ beginnen. Stattdessen fängt er so an: „Ich habe die Ideallinie meiner Augenbrauen genau getroffen.“ Und wenn der Protagonist noch den Namen eines (aus christlicher Sicht) als Götze bezeichneten Gottes in sich trägt, ist der Ton der Geschichte vorgegeben: Hier verehrt man keine höheren Werte, sondern bleibt viele Stufen weiter unten auf der materiellen Ebene. Man konzentriert sich also auf das Wesentliche, anstatt den Wolkenfürsten zu geben.
Dieser Dreiklang ist die Harmonie, nach der sich der Ich-Erzähler Leo ausrichtet. Die Handlung des Romans beschränkt sich auf rund zwei Tage, bildet den Protagonisten aber in einer Umbruchphase ab. Am Morgen schreibt er seine Abiturarbeit in Englisch, nachmittags geht er mit seinem besten Freund Benny ins Studio und abends gibt es die erste Party zur überstandenen Prüfungsphase. Eine weitere Festivität für die Crème de la Crème des Jahrgangs auf einer Jacht ist in Planung. Leo will hoch hinaus: Er möchte es seinem Vater gleichtun und Schauspieler werden. Dafür hat er schon ein Vorsprechen bei Frau Panzner, dessen ehemaliger Lehrerin, erhalten.
Wer nun meint, sich auf eine herzhaft frivole College-Story freuen zu können, wird mit diesem Buch nicht glücklich. Denn es ist nur oberflächlich ein Coming-of-Age-Roman, weil Witte keinen Reifeprozess vor dem Leser ausbreitet, sondern eine statische Versammlung gefühlskalter, wohlstandsdepravierter Kids, die die Rezeptur ihres Proteinshakes jederzeit im Grip haben. Außerdem wissen sie, was man gegen plötzliche Hitzewallungen unter den Achseln tut und wie man lästige Zahnflecken kaschieren kann. Bei dieser eleganten Körperparade weiß man nicht, wo man hinschauen soll: auf die Handy-Monitore und die Fernsehbildschirme, die das Potenzgehabe zu kommentieren scheinen oder in die Augen der Protagonisten, in der Hoffnung, dort noch ein Quäntchen menschlicher Wärme zu finden.
Das Los, das ein Roman bei einem solchen Figurenarsenal ziehen muss, ist ein nachvollziehbar undankbares. Wie lässt sich Spannung aufbauen, wenn der Ich-Erzähler zwar lang und breit über sein Äußeres fabulieren kann, außer Party, ein bisschen Sex und den daraus folgenden Kabbeleien jedoch bis zum Schluss kein großer Knall kommt? Witte stilisiert diesen Mangel an Tiefe derart hoch, dass er zum literarischen Wirkungsmittel avanciert. Leo weiß, dass er seine Hauptrolle sicher hat: „Meine Vorhänge leuchten, als hätte jemand von außen ein Spotlight auf das Fenster gerichtet.“ In solch präzisen Bildern gelingt es Witte, ansatzweise ins Innenleben seines Erzählers vorzudringen; denn eigentlich ist es ja unmöglich, ihm in den Kopf zu schauen, weil er dem Leser nur seinen Körper als Projektions- und Identifikationsfläche anbietet. An solchen Stellen zeigt sich Leos Selbstverständnis, das auf der völlig irrigen Annahme beruht, er selbst sei das Zentrum der Welt. Für einen intelligenten Leser ist sein Missverständnis sofort klar, Leo aber sieht es nicht ein, selbst dann nicht, wenn es offensichtlich ist. Als er bei Frau Panzner eine Kostprobe seiner Darbietung des Dichters Tom Wingfield aus Tennessee Williamsʼ „Glasmenagerie“ gibt, fällt ihm auf die Frage, was diese Figur will, Folgendes ein: „Tom will den Zuschauern Wahrheiten liefern.“ Frau Panzner wiederum erteilt Leo eine Lektion in Sachen Schauspielerdasein. Was ist wichtig? „Erstens: der absolute Wille zum Beruf. Und zweitens: ein dickes Fell.“
Augenscheinlich hat Leo das, aber es hilft ihm nicht, mit einer „bedrohlichen Körperspannung“ vor der Schauspiellehrerin aufzutreten, wenn er keinen Zugang zu seiner Rolle findet. Das Versagen beim Vorsprechen ist bezeichnend für ein anderes Defizit, das dieser Erzähler sein Eigen nennen darf: die arrogante Kälte, mit der er seine Mitmenschen auf Puppen in einem vorherbestimmten Spiel reduziert, in dem er die Hauptrolle spielt. Witte weiß, wie unreif seine Figur im zwischenmenschlichen Erleben ist; ihr Psychogramm gerät zu einem äußerst unangenehmen Blick in menschliche Abgründe. Dabei schafft er es, sich über seinen Protagonisten zu erheben. Der Roman gerät allerdings nicht zur Seifenoper, da Witte Leos neurotischen Narzissmus klar als solchen inszeniert. Wer zieht hier wo die Fäden? Das ist nicht leicht zu sagen. Fest steht, dass fast alle Figuren einem Lifestyle hinterherhecheln, der zur Selbstoptimierung führen soll, tatsächlich aber auf Objektivierung gründet. Das sind Diskurse, die sich Witte aus der Popliteratur borgt. Sein Debüt ist aber nicht das übliche Pastiche. Im Gegensatz zu Christian Kracht, der in „Faserland“ den Archetypus des markenbesessenen Schnösels geschildert hat, flicht Witte Motive des realistischen Romans in dieses Spiel der Oberflächen ein. Die Prosa ist so eng getaktet, dass die Sätze meistens Parataxen sind; das ermöglicht eine schnelle, der Romanhandlung angepasste Lesegeschwindigkeit. Darüber hinaus bedient sich Witte klassischer Leitmotive, die am Schluss des Romans zu ihrer Auflösung finden und ihn so raffiniert beenden, dass offene Fragen zur Nebensache werden.
„Hier bin ich“ beschreibt ein interessantes Paradox. Zwar präsentiert sich Leo Baalberg in allen erdenklichen Facetten, er bleibt aber trotz seiner offensiven Art ein eher introvertierter Charakter, der die Perfektionierung seines Körpers zum Götzendienst erklärt hat. Nicht nur für sich, sondern für alle anderen, die mit ihm zu tun haben: Sein Look bringt „Schwung in das Bild“. Demzufolge denkt er, alle im Griff seiner muskulösen Faust zu haben. Dabei geschehen zwei tragische Wendungen. Zum einen fruchtet die pragmatische Anstrengung nicht: Aus sich selbst einen schönen Menschen zu formen, bedeutet keinesfalls, seinen gesellschaftlichen Status zu verbessern; durchdachte Entscheidungen lassen sich in Handlungen, nicht im betörenden Äußeren festmachen. Zum anderen werden ausgerechnet die Außenseiter, die bei der Jachtparty und auch sonst nicht dazugehören, Leo und seinen Crewmitgliedern zur Gefahr. Dass es so weit kommen muss, ist dem Leser, der die Spannungsmittel registriert, jederzeit bewusst. Nur Leo nicht, der als unreflektierteste Figur in die Geschichte der deutschen Gegenwartsliteratur eingehen sollte.
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